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Das Wetter hier oben

Diese Zeilen schreibe ich an einem Abend, der erinnerungswürdig ist, weil er mir wieder einmal bewusst macht, wie besonders dieser Ort hier oben ist – die Türmerstube samt Rundherum-Balkon in Münster auf St. Lamberti…

Der Wind pfeift in heftigen Böen, einzelne Regentropfen knallen an die Fensterscheiben. Der Wecker klingelt, er macht ein Geräusch wie eine Ente, die sich in den Rieselfeldern lautstark bei ihrer schwerhörigen Tante erkundigt, ob sie das auch gerade gesehen habe, wie die Kanadagänse da hinten planschen, als hätten sie jeglichen Anstand verloren – aber ich schweife ab.

Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schnatterente_M%C3%BCnster_Rieselfelder.jpg

Der Wecker schnattert also los. Zeit für das halbstündliche Signal – wird es ein Friedenssignal, oder werde ich Feinde oder Feuer erspähen über den Dächern der Stadt?

Ich gehe mit dem Kupferhorn auf die Galerie, froh über den warmen Umhang, denn der Wind zerrt ganz ordentlich an der Substanz.

Blick nach Osten: Alles ruhig, die Stadtbücherei schläft in sanften LED-Tönen, die Skulptur der Überfrau reckt grüßend einen silbernen Arm in die Luft. Kein Signal in diese Richtung – so will es die Tradition! (Mehr dazu hier, Klick!)

Blick nach Süden: Alles ruhig, die Hammer Straße ist optisch täuschend steil in den Horizont gerichtet, gesäumt von hellen Latüchten scheint sie eine Landebahn für das Mothership zu sein, das zur Rettung unterwegs ist, wie es die Legende weiß. Unter mir der Prinzipalmarkt, gleich wird sich die Beleuchtung ändern, je später der Abend, desto dezenter das Licht. Eine Gestalt steht mitten auf der Straße, rührt sich nicht, blickt zu mir herauf, ein Taxi kurvt um sie herum.

Die Glocken klingen, manche hell, manche dumpf, auch St. Lamberti’s Glocke läutet akkurat. Dann ist das Hornsignal (Friedenssignal) an der Reihe: Lange Töne signalisieren: Alles in Ordnung. Die Gestalt dort unten hebt die Arme, winkt, winkt stärker als ich mit der Taschenlampen-App das Winken erwidere. Ich gehe weiter.

Blick nach Westen: Alles ruhig, Friedenssignale, die alte Dame Überwasserkirche wartet geduldig auf bessere Zeiten, der Paulusdom wirkt fast grazil aus dieser Perspektive, bemerkenswert schön: zwischen den beiden Domtürmen sieht man das Fürstbischöfliche Schloss. Auf dem Domplatz stehen zwei Menschen mit Fahrrädern, auch sie winken, ich winke zurück. Weiter geht’s.

Letzte Station, Blick nach Norden: Alles ruhig, Friedenssignale, die Kreuzkirche leuchtet ihr JA ICH BIN DA in die Welt, rechts von ihr leuchten solidarisch zwei rote Lampen, auch das Theater Münster gemahnt an die schwere Zeit für die Kulturbranche in sattem Rot. Aus drei Fenstern der Tibusresidenz blinkt es optimistisch, ich winke besonders herzlich zurück.

Inzwischen hat der Wind zugelegt, ich stehe an der Tür zur Türmerstube, lasse den Augenblick auf mich wirken. Laut sind die Böen, unregelmäßig, leidenschaftlich. Nasse Tropfen kommen aus den Wolken, benetzen mein Gesicht. Die Stadt ist wunderschön und ruht sich jetzt aus. Ein paar Lichter gehen an, einige wieder aus. Das Wetter hier oben passt perfekt zu meiner Stimmung. Turmstimmung.
Und über allem der Sternenhimmel.

Foto: m-ART-je (Zentralfriedhof Münster)

Ich singe Türmers Nachtgesang:

Ich hab die Welt verlassen
und stehe auf dem Turm
Ich kann die Sterne fassen

und sprechen mit dem Sturm
Ich banne die Gespenster

und lebe fern dem Spott
Der Wind pocht an mein Fenster

und spricht vom lieben Gott.

Türmers Nachtgesang. Text: Georg Thurmair. Musikalische Bearbeitung: m-ART-je.
Quelle: m-ART-je (Demo-CD), Gesang: Martje Saljé und Christiane Hagedorn.
Alle Instrumente: Martje Saljé. Fretless Bass: Freddy Thalmann.
Recorded @ Noiseless Studio, Rhede/Ems by Jörg Seemann

Wirklich eindrücklich passend.
Um Mitternacht wird das letzte Friedenssignal als Symbol für die typisch münsterische Beständigkeit getutet, und morgen erwacht die Stadt zu neuem Leben.

Apropos:

Münster nutzt übrigens aktuell leerstehende Schaufenster, um die Ausstellung Auf Münster fixiert, Fotografien von Berthold Socha aus den Jahren 1970-2020 (eigentlich im Stadtmuseum) direkt in die Innenstadt zu bringen – klasse Idee!

Und noch eine klasse Idee: Kaufhaussound! Das duo.freiheraus „reflektiert in kurzen Sound-Schrift-Performances diese irren Zeiten. Orte der Innenstadt werden belebt und neu beleuchtet, am Ende gilt es zu berühren und Lichtblicke zu schicken.


Mehr über diese Lichtblicke:

Bleibt optimistisch, ich bin es auch!

Eure Türmerin von Münster.

4 Kommentare

  1. Hannes Demming

    Mitten in der Nacht sehr schön zu lesen. Samstag spricht der Sturm plattdeutsche Verse. Dabei kommt aber nicht der „liebe Gott“ vor, sondern Kollege Wotan aus vorchristlicher Zeit. Wenn ich demnächst mal wieder hoffentlich vom Theater nach Hause radle und es gerade passt, mache ich vom Prinzeps aus, wie jetzt, WINKEWINKE.

  2. Brigitta

    Sehr schöner Bericht.
    Danke für den Einblick.
    Gruß Brigitta

  3. Susanne

    Liebe Martje,
    ja das Schnattern der Ente – wie oft muss ich daran denken, wenn ich hier um unseren kleinen Teich gehen und den Tieren zusehe. Ich finde noch immer, das ist der beste Wecker überhaupt und dein Job hoch oben auf dem Turm ist einfach klasse. Gerne denke ich an unsere Besuche in Münster zurück. Es werden bestimmt weitere folgen.
    Lieben Gruß aus Berlin,
    Susanne

    • Türmerin

      Hey Susanne – ich freue mich schon so auf die Nach-Corona-Zeit, wenn das Reisen wieder sicherer sein wird, ihr seid hier immer herzlich willkommen! 🙂

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