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Turmwärter, Käfige, Glocke – Zeugen vergangener Zeiten

„Von dem alten Turm hat man nur drei Einrichtungen auf den neuen hinübergerettet: den Turmwärter (…), und die drei Käfige der Wiedertäufer (…). Der dritte Zeuge aus vergangenen Zeiten ist die Brand- oder Ratsglocke mit dem „Wappen des Rades tho Munster“ und der Umschrift ‚Vocor horribilis tempore periculi cives convocans. Anno Domini MDXCIIII‚ (1594). Mit ihrer Hilfe wurde früher bei Bränden die Bürgerschaft zusammengerufen. Sie wird heute bei der Wahl des Oberbürgermeisters und der Stadtverordneten geläutet. Das stolze Bauwerk der Lambertikirche trägt den Beinamen ‚Bürgerdom‘, im Gegensatz zu dem Dom der Geistlichkeit auf dem einst lindenbestandenen Domplatz.“

Quelle: Walter Werland, Aus alten Tagen Münsters. Mit Federzeichnungen von Karl Ernst Meier-Lemgo, Aschendorff, Münster 1974, S. 8

Walter Werland (* 6. Mai 1910 ; † 17. Dezember 1983) war Journalist (Redakteur bei den Westfälischen Nachrichten) in Münster, und befasste sich mit lokalen und lokal-historischen Themen. Er schrieb auch über die Architektur, z.B. den Wiederaufbau der Clemenskirche oder auch die Erhaltung des Giebels der Dominikanerkirche. 1975 ist Walter Werland ist für sein Lebenswerk mit der Paulusplakette der Stadt Münster geehrt worden.

Ich möchte diese Aufzeichnungen um eigene Gedanken ergänzen:

1. Der alte Turm – mit dem Abbruch begann man 1881. Der damalige Turmwärter zog aus und 1898 wieder ein, als der neue Turm fertiggestellt war. Durch glückliche Zufälle und Nachkommen weiß man ein bisschen über sein Leben, ich bin noch dabei, alles aufzuschreiben. Seit 2014 bin ich selbst Turmwärterin. Das erfüllt mich mit Freude und auch mit Stolz, vor dem Hintergrund einer über 630 Jahre alten Tradition ist es sehr ergreifend, dieses Brauchtum jetzt eine gewisse (hoffentlich sehr lange) Zeit zu pflegen und mit eigenen Inhalten zu füllen, so wie es meine Vorgänger vor mir auf ihre jeweils ganz eigene Art gemacht haben. Maßgeblich für die Geschichtsschreibung Münsters ist nicht eine bestimmte Person, sondern die Tatsache, dass (und wie) Münster die Tradition des städtischen Türmerwesens immer noch weiter aktiv lebt.
Türmerin

Foto: Claudia Große-Perdekamp

2. Die drei „Käfige“ oder Körbe aus der Zeit der untergegangenen Täuferherrschaft in Münster sind tatsächlich die Originale aus dem 16. Jahrhundert. Ergänzt im Jahr 1987 um eine Lichtinstallation von Lothar Baumgarten, die die unruhigen Seelen der „Wieder-“Täufer darstellen soll. Es ist ein wenig gruselig, aber in der Hauptsache einfach berührend, jeden Abend (außer dienstags) an diesem Zeugnis des historischen Lowlights dieser Stadt vorbeizugehen. Es sagt uns heute: So schön Münster auch ist, hier ereigneten sich fürchterliche, historisch singuläre Dinge, und wir verstecken die kurze, aber prägnante Zeit der religiös-sozialen Eskalation nicht unter einem Mantel des schönen Scheins aus parfümiertem Vergessen, sondern lassen die Körbe im Kontext des Turmes der Stadt- und Marktkirche und stellen uns der Diskussion über die Vergangenheit. Bei Fragen zum Thema wenden Sie sich vertrauensvoll an Ihre städtische Türmerin oder jede andere hiesige Einrichtung, die sich mit der Geschichte beschäftigt – nirgendwo sonst ist die Expert*innendichte so hoch!

Nachts bei den Körben_1

3. Zur Rats- und Brandglocke (wie sie heute zumeist genannt wird) – diese einzige übrig gebliebene städtische Glocke, früher zur Gefahrenmeldung und zu Ratsangelegenheiten geschlagen, heute ausschließlich zur Oberbürgermeisterwahl (das letzte Mal: 2015, das nächste Mal: 2020) ist sowohl in Form als auch im Klang sehr ungewöhnlich. Der Text „Vocor horribilis…“ ist wahr: sie klingt wirklich gar fürchterlich, ich habe es selbst 2015 aus nächster Nähe gehört, als unser Oberbürgermeister im Amte bestätigt worden ist und ich die Aufgabe hatte, die Glocke zu schlagen. Noch ein fun-fact zum Thema: Bei der Umschrift haben sich die Herren Glockengießer im Jahre 1594 verschrieben; statt „cives“ stand dort oben zunächst „cvies“. Auf den ersten Blick sieht man es nicht, doch beim genaueren Hinschauen bemerkt man die offensichtliche nachträgliche Stümperei.
cvies wird zu cives

…aus „CVIES“ mach „CIVES“…

Münster hält so vieles bereit, was es zu entdecken gilt, ich höre auch immer sehr gebannt zu, wenn Zeitzeugen oder Nachkommen von Zeitzeugen etwas berichten – und wenn „mein“ Turm in den Erinnerungen eine Rolle spielt: umso schöner! 🙂

Haben auch Sie eine Turmgeschichte für mich? Kannten bzw. kennen Sie vielleicht die Vorgänger-Türmer Roland Mehring oder Wolfram Schulze persönlich und haben etwas mit ihnen erlebt? Oder haben Sie bereits als Kind dem Signal-Tuten von St. Lamberti gelauscht? Dann schreiben Sie mir Ihre Erlebnisse oder Gedanken – einfach per Mail an tuermerin(ätt)muenster.de oder über das Kontaktformular dieses Blogs – oder klassisch per Post an Martje Saljé, Städtische Türmerin von Münster auf St. Lamberti, c/o Münster Marketing, Stadthaus 1, Klemensstr. 10, 48143 Münster. Danke und Glückauf!

4 Kommentare

  1. Michael Bischoff

    Wieso grüßt die Türmerin mit Glückauf, dem Gruß der Bergleute?

    • Türmerin

      Weil Glückauf auch der Gruß der Turmwächter ist! 🙂

      • buschiibb

        Ja dann! Wieder was gelernt. 🙂

        Glückauf aus Ibbenbüren

        • Türmerin

          🙂 Vom Lambertiturm kann ich bis nach Ibbenbüren schauen! Glückauf!

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