Amalie – das ist DIE Influencerin der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts.

„Familia Sacra“ – das sind ihre Follower.

Heute ist der 210. Todestag der einzigartigen Amalie.

1768 heiratet die ehemalige gelernte adelige Hofdame Adelheid Amalie von Schmettau (1748-1806) den russischen Fürsten und Wissenschaftler Dimitri Alexejewitsch Gallitzin (eigentlich: Dmitri Alexejewitsch Golizyn, 1734-1803); doch ihr weiteres Leben ist extrem ungewöhnlich…

Sie bewegt sich ohne ihren Mann und aus eigenem Antrieb und Wissensdurst in einem Spannungsfeld zwischen Aufklärung, Katholizismus und Romantik, ihre Biografin Dr. Mathilde Köhler nennt sie „die zentrale Frauengestalt dieses revolutionären Jahrhunderts“, und der in diesem Blog immer wieder auftauchende Johann W. von Goethe schreibt:

„Das Bild der Fürstin hat mich sehr gefreut. Ich wünschte diese seltene Person kennen zu lernen.“

Die wunderbare Amalie kauft am 4. Januar 1780 in Münster ein langgestrecktes einstöckiges graues Haus mit einem kleinen Spitzgiebel über dem Mittelbau. Es stammt aus dem Besitz der Droste-Vischerings und stand in der Grünen Gasse – genau an der Stelle, wo heute das Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium steht.

Die folgende Skizze des Hauses, das in den Urkunden auch „Ascheberger Hof“ genannt wird, hat Johannes Rödiger angefertigt, sie ist unveröffentlicht, aber einsehbar im Handschriftenlesesaal der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) Münster:

Rödiger Skizze des Gallitzinhauses

Der expressionistische Bildhauer Aloys Röhr fertigte die Gedenkplatte an, die am Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium angebracht ist:Goethe-Gallitzin_Aloys Röhr

Ein weiteres Haus hat Amalie zu diesem Zeitpunkt bereits angemietet: Ein großes Bauernhaus im idyllischen Angelmodde außerhalb von Münster.

Warum Münster?

Amalie möchte die fortschrittlichen Reformen des Franz Friedrich Wilhelm von Fürstenberg kennenlernen – es handelt sich also um eine Studienreise mit dem Ergebnis großer Begeisterung für Münster und seine Möglichkeiten und Menschen, dass sie sich kurzerhand entschließt, für eine wesentlich längere Zeit hier zu bleiben. Fürstenberg kennen wir als Statue vor dem gleichnamigen Fürstenberghaus, Teil der Universität. Und auch wenn die münstersche Uni „Westfälische Wilhelms-Universität“ heißt: Gegründet hat sie nicht der alte Kaiser Wilhelm II., sondern eben jener Franz Freiherr von Fürstenberg – Vertreter des kölschen Erzbischofs und des Bischofs von Münster. Und das mit so unkonventionellen Ideen für Erneuerungen, dass sein Ruf überregional auch unsere ebenfalls unkonventionelle Amalie erreicht.

Was macht Amalie so einzigartig?

Neben vielen anderen äußeren Umständen und individuellen Charaktereigenschaften ist z.B. auffällig, dass sie ihre beiden Kinder ganz alleine erziehen möchte. Mimi und Mitri (eigentlich Marianne bzw. Maria Anna Dorothea, 1769-1823, und Demetrius Augustin, 1770-1840) bekommen eine ebenfalls ungewöhnliche Erziehung – die besonders bei Tochter Mimi auffällt, denn sie lernt schwimmen. In der Werse! Und: Mutter Amalie schwimmt mit den Kindern, fast jeden Tag! Auch auf die Jagd geht sie mit ihnen, und an ihrem Reitunterricht nimmt sie ebenfalls teil.

Heute völlig unspektakulär, im 18. Jahrhundert eine krasse Idee. Mädchen bekommen Unterricht in Hauswirtschaft oder Handarbeit, aber nicht in Sport, Schwimmen, Fechten usw. – das ist ausnehmend männliches Terrain.

Interessant ist auch die Ehe-Konstellation: Fürst Dimitri hat sich wohl damit abgefunden, dass seine Frau neue Wege gehen möchte, er wundert sich und hinterfragt einige ihrer Maßnahmen, aber schlussendlich lässt er sie machen, was sie für richtig hält. Eine ungewöhnliche Liebe, die diese unterschiedlichen Lebensauffassungen und -entwürfe ausgehalten hat, Dimitri ist als Gesandter und Diplomat ständig auf Reisen und nur zu Besuch ab und an sieht er seine Familie.

Amalie bezieht sich bei ihrer Kinder-Erziehung auf die Ideen Rousseaus, der u.a. Abhärtung empfiehlt – sein großer Erziehungs-Roman „Emile“ war Stoff in Pädagogikvorlesungen meines Lehramt-Studiums…

Den Gallitzin-Kindern kann man in unseren heutigen Tagen im Stadtmuseum begegnen, mit dem „Mimi & Mitri Club“ lernen die jüngeren Besucher*innen die Stadt und allerlei spannende Hintergründe ihrer Geschichte kennen!

Mimi&MitriDemetrius „Mitri“ wird in seinem späteren Erwachsenenleben Priester und Missionar in Amerika werden, sich Augustine Smith (nach seinen Vorfahren, den Schmettaus) nennen; in den Allhegeny Mountains in Pennsylvania wurde eine Stadt nach ihm benannt „Gallitzin“, und auch die Stadt „Munster“ geht auf ihn zurück …  Auch sein Leben ist einen Fortsetzungsroman respektive eine verfilmte Serie wert! Und Marianne „Mimi“ verbringt ihr Leben später im Kreis ihrer Freunde, sie kennt Annette von Droste-Hülshoff und hat fünf Stiefkinder, als sie den Witwer Fürst Salm-Reifferscheidt-Krautheim heiratet. Eigene Kinder sollte sie nicht bekommen.
Auch den illustren Freundeskreis der Gräfin Amalie muss man erwähnen – der ironisch gemeinte Begriff „Familia Sacra“ ist eine wichtige Münster-Vokabel: Dieser auch „Kreis von Münster“ genannte Stammtisch diskutiert kulturelle, humanistische, und vor allem christliche Werte wie Nächstenliebe und Toleranz. Dass der Mittelpunkt dieses Kreises unsere Amalie ist – eine Frau – ist, das ist ebenfalls sehr bemerkenswert; nicht vergessen: Wir befinden uns im 18. Jahrhundert!

Heute würde Amalie sicherlich als Meinungsmacher der deutschen Geistesgeschichte oder, im social media-Sprech, als „Influencer“ gelten, und ihre „Follower“, also Bewunderer und Mitstreiter, sind Franz von Fürstenberg, Friedrich Jacobi, Anton Matthias Sprickmann, Bernhard Overberg, Johann Georg Hamann, Graf zu Stolberg und Franz Hemsterhuis…

Ihr außergewöhnlicher Ruf kam also auch unserem guten Goethe zu Ohren, der ja eigentlich aus einer ganz anderen „Ecke“ kam (er war erklärter Protestant). Fürstin Amalie hatte ihn bereits einmal in Weimar besucht, und nun reiste er 1792 nach Münster zum Gegenbesuch. Er war auf dem Rückweg von einem Feldzug aus Frankreich (Schlagwörter zum Selbergoogeln: „Campagne in Frankreich“, „Erster Koalitionskrieg“, „Französische Revolution“). Leider kam er sehr spät in der Stadt an, so dass er niemanden – gut erzogen – mehr stören wollte, sondern lieber am nächsten Tag frisch und gut gelaunt vor ihrer Tür stehen. Seine gute Laune indes wurde auf eine harte Probe gestellt – sämtliche Gasthöfe waren restlos überfüllt wegen der vielen französischen Emigranten.
Goethe wollte keine weiteren Umstände machen und blieb in dieser Nacht einfach auf einem Stuhl in der Gaststätte am Prinzipalmarkt sitzen. Über den Besuch ist sonst noch bekannt, dass sie sich gemeinsam die „geschnittenen Edelsteine“ der Familie angesehen haben, sogenannte Gemmen, Goethe war ja, wie auch Fürst Dimitri Golizyn, ein begeisterter Geologe und Mineraloge.

Fürstin Amalie von Gallitzin haben wir es also neben allem bereits Erwähnten zu verdanken, dass der große Johann Wolfgang von Goethe ein Mal nach Münster gekommen ist.

Gepflegt wird sie zuletzt von ihrer Tochter Mimi, schwer krank liegt sie im Bett, Krämpfe und Atemnot plagen sie, Overberg steht ihr bei und liest ihr die letzte Messe. Ihre angeblich letzten Worte: Ich segne euch alle.

Am 27. April 1806 stirbt Adelheid Amalie Fürstin von Gallitzin und wird auf eigenen Wunsch auf dem Dorffriedhof von Angelmodde mit einem sehr schlichtem Begräbnis beigesetzt.

Stadtlexikon

Münsters beste Seiten – Das Stadtlexikon von Dr. L. Brößkamp, münstermitte medienverlag 2016