Sapperlot! Potzblitz! Ist es denn die Möglichkeit… Schon ist der November angebrochen und es kommt nun die Zeit, in der Viele im Dunkeln morgens aufbrechen und im Dunkeln abends zurückkommen… Dunkel war’s, der Mond schien helle – wohlan denn! In der Turmstube ist dies wiederum unter Anderem die Zeit für besinnliche, anregende und aufregende Literatur im Halbe-Stunden-Takt.

Die Turmstuben-Bücher des Monats November sind:

Robert Löhr: Krieg der Sänger. Piper Verlag GmbH München 2012 (Taschenbuchausgabe 2013)

Deutsche Gedichte. Von den Zaubersprüchen bis zur Gegenwart. Sammlung Dieterich, Band 91. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Wiesbaden [ca. 1950] (2)

Deutsche Gedichte. Von den Zaubersprüchen bis zur Gegenwart.

Dieser Band ist nicht irgendein Gedichte-Band, sondern vereint als Anthologie in sich wahrlich das Best Of aus ungefähr 11 Jahrhunderten.
Im Vorwort heißt es treffend:

„…das Erhaben-religiöse, Zärtlich-innige, das Ritterliche, das Volkstümliche, das Lustige und Drollige erscheint in dem Zug, wie die Zeitfolge ihn führt.“

Interessant für Fans der Urfassungen ist der vordere Teil, denn hier werden die frühen Gedichte zweisprachig dargeboten. Ein Beispiel:

Vom großen Neidhart von Reuental

Rûmet ûz, die schämel…

Rûmet ûz, die schämel und die stüele!

heiz die schragen

vürder tragen!

hiute sul wir tanzens werden müede.

werfet ûf die stuben, so ist ez küele,

daz der wint

an diu kint

sanfte wæje durch diu übermüeder.

sô die voretanzer danne swîgen,

sô sult ir alle sîn gebeten

daz wir treten

aber ein hovetänzel nâch der gîgen.(…)“

Winterlied

Räumet aus die Schemel und die Stühle!

Laßt die Schragen

Hinaustragen!

Heute tanzen wir uns müde!

Werft die Türen auf, so wird es kühle,

Daß der Wind

Bei den Kind

Wohlig fahre durch die Mädchenmieder.

Wenn alsdann die Vortänzer schweigen,

Seid ihr alle schön gebeten,

Daß wir treten

Wie bei Hof ein Tänzchen nach der Geigen. (…)“

Natürlich finden sich die Klassiker allesamt wieder, die Merseburger Zaubersprüche (um 700) genau wie Walther von der Vogelweide, Goethe und Schiller, Else Lasker-Schüler, Paul Celan und und und…

Türmer-Relevanz? Na klar! Erstens lesen Türmer*innen naturgemäß gerne Gedichte, zweitens tauchen diese hier prominent auf:

„Der Türmer schaut zu Mitten der Nacht

Hinab auf die Gräber in Lage;

Der Mond, der hat alles ins Helle gebracht;

Der Kirchhof, er liegt wie am Tage (…)“

Das ist, natürlich, Goethe’s berühmt-berüchtigter „Totentanz“ (1813), und auch der Turmwächter Lynkeus aus Faust II. darf nicht fehlen:

„Zum Sehen geboren,

Zum Schauen bestellt,

Dem Turme geschworen,

Gefällt mir die Welt. (…)“


Robert Löhr: Krieg der Sänger.

Waren wir eben bei den Originaltexten der großen Dichter*innen, so geht es thematisch bei Löhr zwar nahtlos weiter – auch hier taucht der große Walther von der Vogelweide neben anderen Großen seiner Zeit auf, aber die deutsche Literaturgeschichte des Mittelalters wird hier als fiktionaler und sehr spannender Roman-Plot behandelt.

„Krieg der Sänger“ ist ein ungewöhnlicher historischer Roman, er spielt auf der Wartburg im Jahr 1206, als Rahmenhandlung dient eine Begegnung Martin Luthers (als dieser im 16. Jahrhundert an der deutschen Übersetzung der Bibel saß) mit dem Teufel persönlich. Der Teufel erzählt Luther schließlich vom Gipfel oder besser gesagt Krieg der Sänger vor drei Jahrhunderten…

Türmer-Relevanz? Aber selbstverständlich! Erstens lesen Türmer*innen naturgemäß gerne historische Romane, zweitens tauchen auch hier und da Türme auf, ein Beispiel: Eine Bauersfrau macht dem Dichter und Kanzler des Thüringer Landgrafen, Heinrich von Ofterdingen, einen Trank aus Ringelnatterfleisch, Schlangenhaut, Lauch und Wasser, der angeblich gegen Ausschlag an den Knieen wirken soll. Sie unterhalten sich – dabei geht es um das Nibelungenlied:

„In der Stille, die darauf entstanden war, sagte sie: ‚Du schreibst die Legende vom Drachenschatz und den Burgundern nieder.‘
‚Von Zeit zu Zeit‘, entgegnete er und fragte sich, wie in Christi Namen sie davon wissen konnte. ‚Es dauert etwas länger, als ich angenommen hatte, und ich bin allein.‘
‚Zu wenig Einfälle?‘
‚Zu viele. Jeder Deutsche kennt einen Teil der Sage, aber keine zwei Deutschen erzählen ihn gleich. Es ist‘ – Heinrich suchte nach Worten und wies auf den Topf, in dem sie rührte -, ‚es ist, als würden mir unendlich viele Zutaten und Gewürze aufgeladen, aus denen ich dennoch eine schmackhafte Suppe kochen soll.‘

‚Die Hauptsache ist, dass du den Schlangenturm nicht vergisst. König Gunther, der gebunden samt seiner Harfe in eine Zelle voller giftiger Schlangen geworfen wird und mit seinen Zehen die Saiten schlägt, um das Gewürm einzuschläfern. Bis er nicht mehr kann und die Schlangen über ihn herfallen.‘
‚Siehst du: Ich habe zum Beispiel gehört, dass es eine Grube war, kein Turm und dass Gunther umgehend getötet wird von den Schlangen. Sie fressen ihm die Leber heraus.‘
‚Unsinn. Es war ein Turm, und Gunthers Leber spielt keine Rolle, und wenn du etwas anderes schreibst, Österreicher, dann hol dich der Teufel.‘


In diesem Sinne frohes Lesen, eine besinnliche dunkle Zeit, Kerzen sind eine schöne Erfindung, Bücher sowieso, dazu ein herzhafter Tee mit Kieferrauch-Note – und halbstündlich grüßt das Türmerhorn…