Neues Jahr – neue Gelegenheiten, viele viele viele Bücher zu sichten und lesen! Hier die Bücher, die im Januar mit mir in der Turmstube sind:

Isabell Richter: „Der phantasierte Tod. Bilder und Vorstellungen vom Lebensende im 19. Jahrhundert“, campus Historische Studien, Frankfurt a. M./New York 2010

Werner Holzwarth (Text) und Henning Löhlein (Illustration): „Klaoverich un Klaoverita. En Vertellsel van’t Glück“. Up Westfäölsk van Hannes Demming. Klartext-Verlag, Essen 2014

Gottfried Wolters (Hrsg.): Von Kerlen wollen wir singen. Europäische Schelmenlieder mit Klaviersätzen“. Mit Holzschnitten von Alfred Zacharias. Möseler Verlag, Wolfenbüttel 1959

Der phantasierte Tod„Der phantasierte Tod…“ von Isabell Richter ist eine Kulturgeschichte des Todes basierend auf drei Quellenarten:

1. schriftliche Quellen, z.B. Tagebücher;
2. Symbole, z.B. Trauerschmuck, Totenmasken
3. Postmortem-Photographie (inszenierte Bilder von frisch Verstorbenen)

Dieses Buch ist seit meiner Abschlussarbeit (über Sterberituale in Rumänien) an der Universität in meinem Besitz, nach einigen Jahren möchte ich mich wieder mit dem Thema beschäftigen, denn hier geht es um das Verhältnis zur eigenen Vergänglichkeit in der Zeit des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts – eine Zeit der Umbrüche und Neuordnung. In diese Zeit fällt z.B. auch der Abbruch des alten Kirchturms von St. Lamberti zu Münster (1881) und dessen Neubau (bis 1889) in völlig anderer und ungewohnter Stilistik (siehe hierzu auch: Der neue Turm).
Kennzeichnend für das 19. Jahrhundert ist ein Mentalitätswandel, Stichworte zum Weiterforschen: Dechristianisierungsprozesse, Säkularisierungstendenzen, Psychologisierung des Selbst. In dieser Zeit etablieren sich Biologie und Psychologie als akademische Fächer, die Statistik verzeichnet sinkende Sterberaten (durch eine verbesserte Medizin)
, die Menschen beginnen, sich nicht mehr durch das Kollektiv (die Gemeinde), sondern zunehmend individuell wahrzunehmen und zu fühlen.

„Aus den Fallstudien über Tagebücher, Objekte und Photographien lassen sich im Hinblick auf christliche Deutungsmuster an verschiedenen Stellen Erosionsprozesse erkennen. Die Diaristinnen und Diaristen folgen in ihren Selbstbeschreibungsmustern der Vorstellung eines dualistischen Körper-Seele Prinzips. Doch im Hinblick auf die Gewissheit der unsterblichen christlichen Seele regen sich vielfach Zweifel.“

Weitere Akzentverschiebungen:
Trauerschmuck aus Haar = ewige Verbundenheit mit den Toten bereits zu Lebzeiten der Hinterbliebenen (nicht primär im Fokus: die Vereinigung mit Gott oder die Wiederbegegnung von Familienmitgliedern im Himmel!)
Postmortem-Photographie = technisch geprägte Vorstellung der Unsterblichkeit der Menschen (verlebendigende Inszenierung!)

Ob die Türmer und ihre Familien in Münster und anderswo in Europa ebenfalls über ihre Vergänglichkeit nachgedacht haben? Sicher hatten sie nicht die finanziellen Möglichkeiten, Photographien in Auftrag zu geben, doch materielle Andenken an Verstorbene werden auch sie sicher bewahrt haben, eine Locke, ein Tuch, und vielleicht hat auch der eine oder andere sogar seine Gedanken niedergeschrieben, wie damals durch alle Gesellschaftsschichten hindurch Mode… In einem Turm sitzend hat man m.E. doch eine ungewöhnliche Perspektive auf das Leben, die Menschen und den Glauben. In dieser Richtung möchte ich gerne weiterforschen…


KlaoverichDie Geschichte von Klaoverich und Klaoverita gibt es in Schrift-Deutsch schon seit 2011 – unter dem Titel „Kleeorg und Kleeopatra. Eine Geschichte vom Glück“ (Bajazzo Verlag, Zürich).
2014 erschien das Buch in zwölf Mundarten – darunter auch das für meine norddeutschen Ohren sehr wundersame und äußerst musikalische westfälische Platt. Der Großmeister der westfälischen niederdeutschen Sprache, Hannes Demming, war übrigens für einen Beitrag der Westfälischen Nachrichten (WN) bei mir ganz oben auf dem St. Lambertikirchturm und hätte mich beinah aus dem Tut-Konzept gebracht – doch das ist eine andere Geschichte, die zu einer anderen Zeit erzählt werden wird.
Klaoverich und Klaoverita also bekommen vierblättrigen Nachwuchs – und jeder weiß ja, dass vier Kleeblätter großes Glück bedeuten. Als sich eine Kuh nähert, gehen alle reflexartig in Deckung, nur das Kleine nicht:

„Un all de annern veerhunnertunfüftig Klaoverplanten up de Wieske daien datsöwtige. Nä, nich alle. Dat Lüttke, wat jüst up de Wiält kuommen was, dukede sick nich. Et har jä auk no nienich wat van ’ne Koh haort.“

Ob das kleine Vierblättrige nun sich selbst Glück bringen kann… verrate ich nicht. Aber was anderes verrate ich: Das Buch ist nicht nur für Kinder wunderschön, auch erwachsene Kinder werden es lieben – die Botschaft, die tollen Illustrationen, und vor Allem die niederdeutsche Sprache, die alles irgendwie warm und herzlich macht, egal um was es geht. Und wer Hessisch oder Ruhrdeutsch bevorzugt: Das Buch gibt es wie gesagt in zwölf Mundarten!


Von Kerlen wollen wir singen Von Kerlen wollen wir singen versammelt 31 Lieder der Gattung „Vorsängerlieder mit einfallendem Chorus für gesellige Runden“. Nicht nur Texte, auch die Melodie und eine mögliche Klavierbegleitung ist in Notenschrift zu jedem Lied dabei.
Gesellige Runde? Nicht auf St. Lamberti – hier stand in der Amtsbeschreibung „Fähigkeit zum Alleinsein sollte vorhanden sein“. Ist sie auch, aber nichts spricht dagegen, sich im Turm-Exil abends weiterzubilden und das Gelernte tagsüber in geselliger Runde auszuprobieren. Außerdem ist an anderer Stelle schon die frappante Musikalität anderer Türmer erwähnt worden, eine europäische Türmer-Kapelle ist damit denkbar.
Ein wichtiger weiterer Grund, sich dieses Buch genauer anzuschauen, ist im Nachwort des Herausgebers Gottfried Wolters angesprochen:

„An der Wand der St. Nikolai-Kirche in Mölln zeigt man Eulenspiegels Grabplatte. 600 Jahre ist er schon tot. Aber … ‚hei lewet noch‘ – Till Eulenspiegel und seine bunte Sippe, seine europäischen Brüder und Vettern: der flämische Pierlala (…) und sein plattdeutscher Burlala, der italienische Pagliaccio (Bajazzo) und seine Vettern, der französische Pierrot und der deutsche Kasperle, der polnische Maciek und der russische Petruschka und viele andere Benamste und Namenlose der gleichen Familie. (… ) Von ihnen, ‚von Kerlen wollen wir singen‘!“

Till Eulenspiegel ist auch einmal Türmer gewesen – auf Schloss Bernburg zeugt der Eulenspiegelturm von dieser Zeit, als er in den Diensten des Grafen von Anhalt stand und nach Feinden und Feuern Ausschau hielt (http://www.museumschlossbernburg.de/Eulenspiegelturm.php).
Viele Lieder stehen im Original (flämisch, Bremer Platt … usw.) und wurden zusätzlich ins Schriftdeutsche übertragen.
Mein Exemplar stammt aus dem
Nachlass meiner Großeltern, antiquarisch ist es jedoch auch weiterhin hier und da zu erhalten, die Deutsche Nationalbibliothek hat es ebenfalls in Besitz.


Fazit: Sterben, Glück, Lebensfreude – all das ist der Stoff, aus dem Bücher gemacht sind, die den Horizont erweitern, die ihren temporären Platz in der Turmstuben-Bücherei erhalten. Auf auf zum fröhlichen Lesen!