Wir schreiben das Jahr 2024, am Ostersonntag sitzt die Türmerin von Münster in ihrer Dienststube auf der katholischen Stadt- und Marktkirche St. Lamberti und freut sich auf einen schönen ruhigen Osterabend. Dann kommt und geht allerdings erst einmal ein Vorbote des viel beschriebenen Weltuntergangs…

Draußen blitzt, grollt und regnet es zum Dienstbeginn wie in einem fulminanten Endzeit-Roland-Emmerich-Film. Die Türmerin hält Rücksprache mit der Einsatzleitung der Feuerwehr, der Kollege am anderen Ende der Leitung beruhigt: es werde sicher schnell wieder vorbei sein. Dafür wirkt das Szenario aber umso bedrohlicher… und erinnert an eine schlimme Nacht im Juli 2014, als schon einmal eine Gewitterzelle über der Stadt Münster kreiste…


THROWBACK 2014: Thunderbolt & Lightning, very very frightening!

Damals befand ich mich ebenfalls im Turm und wollte die traditionellen Friedenssignale tuten – und dann krachte es plötzlich ohrenbetäubend, die Lampen in der Turmstube erloschen, das ganze Gebäude erzitterte. Ein Blitz hatte eingeschlagen – IN DEN TURM von St. Lamberti!

Am 28. Juli 2014 war das, und zur selben Zeit saß Dr. Jan Bruder im Martiniviertel and fotografierte den Gewitterhimmel. Dabei gelang ihm ein spektakuläres Beweisfoto, das der Nachwelt zeigt, dass der Blitz es sich offenbar kurz noch überlegt hatte, ob er wirklich der Türmerin „Hallo“ sagen sollte, bevor er dann umso krachender in den Blitzableiter fuhr…

Ein Blitz zuckt über den Himmel, fotografiert durch eine Fensterscheibe mit Regentropfen, der Blitz endet in der Spitze des Lambertikirchturms.
Foto: Jan Bruder © 28.7.2014

Da ich damals gerade erst knapp 8 Monate die neue Türmerin von Münster war, wurde ich das erste Mal mit so einer angsteinflößenden Situation konfrontiert. Die Folgen des Gewitters 2014 und Starkregens zerstörte viele Wohnungen, Keller wurden überflutet und Habseligkeiten vernichtet. In der selben Nacht nach dem Turmdienst half ich noch – wie so viele andere – mit, Dinge zu retten und ältere Menschen in Sicherheit zu bringen. Danach sollten noch einige Gewitter folgen, aber keines mit so schlimmen Auswirkungen…


BLITZABLEITER: eine sinnvolle Erfindung!

Aber natürlich denke ich jedes Mal an dieses verheerende Erlebnis und sorge mich. So auch in der diesjährigen Osternacht 2024, im 10. Jahr meiner Tätigkeit als Türmerin von Münster.

Gut, dass sich das Gewitter wirklich ganz schnell wieder verzogen hat. Und doppelt gut, dass St. Lamberti heutzutage selbstverständlich einen Blitzableiter besitzt. Das war nicht immer so, verrät uns ein Blick in die Aufzeichnungen…


OSTERFEUER UND BLITZE

An die schönen Osterfeuer konnte ich als olle Bangebüx aber jedenfalls erstmal nicht denken – was für ein Glück, dass ihr mir eure Eindrücke und Fotos geschickt habt, danke dafür!
Im Wienburgpark war auch wieder ein Feuer vorbereitet, die Feierlichkeiten wurden aber aus Sicherheitsbedenken wegen der Gewitterlage früh beendet. Vorher hat aber Birgit Leimann supertolle Fotos gemacht, die sie mit uns auf ihrem Instagramaccount teilt (ein KLICK! auf den Screenshot bringt euch direkt zu Instagram und Münster in Bildern): 

Screenshot von Birgit Leimanns Instagramaccount: Osterfeuer mit Blitzen am Himmel

DEEP DIVE: Blitzeinschläge und der Turm von St. Lamberti in der Vergangenheit

Kommt mit auf einen spannenden kleinen Deep Dive in die Geschichte!

Aus Stadtarchiv, alten Zeitungsartikeln, Aufsätzen und der ULB habe ich in den letzten 10 Jahren ja schon einiges zusammentragen können, was die Türmer und den Turm von St. Lamberti betrifft. Immer wieder stoße ich auf Mosaikteilchen, die erklärende Einblicke geben.

Über die Umstände des Turm-Neubaus im ausgehenden 19. Jahrhundert schrieb ich hier: KLICK! – der alte Turm neigte sich schon einige Jahre nach Westen, das Dach wurde erneuert (1871), dann sollte auch der Turm komplett neu gebaut werden, so weit, so klar. Auch bei Heinrich und Max Geisberg finden wir sehr vieles zum Turm-Neubau, darüber schrieb ich hier, KLICK!

Foto: Friedrich Hundt, alte Lambertikirche mit Kuppel
Foto: Friedrich Hundt, alte Lambertikirche mit Kuppel

Vieles, was ich anderenorts nicht finden konnte, habe ich einer Schatzkiste namens „Kapsel“ im Handschriftenlesesaal der ULB zu verdanken – über die Entdeckung dieser Recherchemöglichkeit habe ich hier geschrieben (noch auf dem alten Blog, KLICK!) 

JANS RÖDIGER und die Blitze

Dort begegnete mir Johannes „Jans“ Rödiger, Feuer-Gutachter, Versicherungsvertreter, Schriftsteller, Zeichner, Königlicher Hofmaurermeister u.v.m. in einer Person! 

Rödiger nun ist derjenige, der die Notwendigkeit eines Tum-Neubaus im 19. Jahrhundert deutlich in Zusammenhang mit Blitzeinschlägen voriger Jahre beschrieb.

Er schrieb, dass in den Jahren 1751, 1762, 1786 und 1856 Blitze in den Lambertikirchturm eingeschlagen seien, es auch drei Mal gebrannt habe, und deshalb 1858 beantragt worden sei, einen Blitzableiter einzubauen. 

Definition:
Der Blitzableiter, wie wir ihn heute kennen,
wurde 1752 von Benjamin Franklin erfunden.
Er hatte die Idee, ein Metallstück auf ein Haus zu setzen
und es mit einem Draht zu verbinden, der in die Erde führte.
Diese einfache Erfindung hat unzählige Leben gerettet
und ist bis heute im Einsatz. 

Quelle: Online-Branchenverzeichnis der Elektriker, elektriker.org

Zu dem Zeitpunkt neigte sich der Turm bereits seit geraumer Zeit bedenklich nach Westen Richtung Paulusdom. Es sei eine Untersuchung unter Leitung von königlichen Bauinspektoren erfolgt, die ergab, dass die oberen Geschosse des Turmes nicht sofort abgetragen werden müssten, aber sicherheitshalber lieber nicht alle Glocken gleichzeitig erklingen sollten, und auch nur vorsichtig – das „Überziehen“ der Glocken wurde verboten, damit das Gewicht der Bewegung den Turm nicht weiter schädige.

Zeichnung: Fritz Stoltenberg, alte Lambertikirche mit Kuppel
Zeichnung: Fritz Stoltenberg, alte Lambertikirche mit Kuppel

Offenbar wurde trotz erwiesener Blitzeinschläge und Gefährdung durch massenhaftem Holzverbau beim Stützgerüst und neuem Dachstuhl kein Blitzableiter empfohlen – weil sich die Herren königliche Bauinspektoren uneinig waren.

Der Kirchenvorstand nahm die Sache selbst in die Hand, verbaute zwei Blitzableiter. 

Empfohlen wurde aber auf lange Sicht das Abtragen des alten Turmes – vor allem, weil die Kirche verständlicherweise das traditionsreiche Kulturgut des Glockenläutens ausführen wollte, gerne auch ab und zu ein Vollgeläut!


Wetterläuten

Noch ein weiterer Fakt über Gewitter und Glockengeläut: 
Bis heute wird im Alpenraum das Wetterläuten praktiziert. Durch Glockenklang und die entsprechende Wellenbewegung soll ein aufziehendes Gewitter vertrieben werden. Dafür ist traditionell der Mesner (auch Sakristan oder Küster genannt) zuständig. 

Das dieses Phänomen ein genuin katholisches ist, können wir davon ausgehen, dass auch in Münster die Glocken einmal gegen Gewitterwolken eingesetzt worden sein mögen.

Da auf der Rats- und Brandglocke – die KEINE Kirchenglocke ist und nicht mit dem kirchlichen Geläut zusammen erklingt! – die Inschrift steht „Vocor Horribilis Tempore Periculi Cives Convocans“ (Die Schreckliche werde ich genannt, rufe in gefährlichen Zeiten die Bürger zusammen), ist diese Glocke für einen derartigen Einsatz denkbar. 

Ratsglockenbeschriftung
…tempore periculi… Detail der Rats- und Brandglocke auf der Lambertikirche, Foto: Marta Latour

Ich jedenfalls wäre gerne bereit, das Wetterläuten auch hier wieder einzuführen und durchzuführen. Heavy Metal, genau mein Ding! 

(Heavy Metal war der Titel einer Ausstellung der DASA Dortmund 2015, in der es um Glocken ging; dort hielt ich einen Vortrag zu meiner Tätigkeit und zur Rats- und Brandglocke auf St. Lamberti, KLICK! – Bericht von Alles Münster) 

…oder vielleicht lieber doch nicht, denn wie man hört und liest, sollen zahlreiche Menschen während des Wetterläutens vom Blitz getroffen worden sein… 

Dann rezitiere ich lieber weiter Schiller, denn auch dort beginnt es mit „Die Lebenden rufe ich. Die Toten beklage ich. Die Blitze breche ich.“

Vivos voco. Mortuos plango. Fulgura frango.
Fest gemauert in der Erden
Steht die Form aus Lehm gebrannt.
Heute muß die Glocke werden!
Frisch, Gesellen, seyd zur Hand!
Von der Stirne heiß
Rinnen muß der Schweiß,
Soll das Werk den Meister loben;
Doch der Segen kommt von oben… 

Weiter hier: KLICK! Gedichtefreund

Schreibt mir bitte, was ihr über das Wetterläuten denkt: unwissenschaftlicher Quatsch oder liebenswertes Brauchtum?

Die Rats- und Brandglocke erklingt turnusmäßig wieder zur Vereidigung nach der Oberbürgermeister- und Kommunalwahl im Herbst 2025. Darauf freut sich eure

TÜRMERIN VON MÜNSTER.


Quellen und Weiterführendes

Hier findet ihr mehr über das Wetterläuten: 
Bistum Regensburg über Wetterläuten in Bayern
100 Sekunden Wissen über Wetterläuten, SRF (Audiobeitrag)
Süddeutsche Zeitung: Ans Wetterläuten glaub i scho!  

Den beschriebenen Original-Rödiger-Text sehr ihr hier, mit meiner Übertragung in heute gängiges Schriftbild:

Rödiger über Glocken, Blitze und Lamberti
Quelle: ULB Handschriftenlesesaal, Texte von Johann Rödiger, Gerichts- und Feuersozietäts-Taxator, im Münsterschen Anzeiger veröffentlicht

Hier geht’s zum HANDSCHRIFTENLESESAAL der ULB Münster, Klick!