Eins steht fest: Ein Türmer / eine Türmerin sollte kein Höhenangst haben. Das Beitragsfoto zeigt die Türmerin von Münster in 75m Höhe an ihrem Arbeitsplatz auf St. Lamberti, es stammt von Roman Mensing. Da Höhe immer wieder ein Thema bei Gesprächen und Interviews ist, gibt es jetzt hier einen kleinen Beitrag über das, was ein Turm (oder ein Berg oder ein Heißluftballon oder ein Flug auf dem Besen…) beim Menschen auslösen kann (aber nicht muss). Die Grundlage des Beitrages lieferte u.a. der Artikel „Hier geht’s runter“ von Patrick Illinger, erschienen in der Süddeutschen Zeitung Nr. 106 vom 9./10. Mai 2015.

Ein Experte auf dem Gebiet der Höhenängste ist der Neurologe Prof. Thomas Brandt vom Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er erforscht u.a. die historischen und naturwissenschaftlichen Aspekte des „Höhenschwindels“ – denn man muss unterscheiden zwischen echter Höhenangst/Akrophobie, Höhenschwindel und Höhenintoleranz.

Akrophobie = (vom griechischen àkros=Spitze, Gipfel) psychische Angststörung – wie auch Spinnenphobie; aber ein Mensch, der Angst vor Spinnen hat, starrt meist das Objekt seiner Panik an, während der/die Höhenphobiker*in eher den Blick vom Abgrund abwendet!

Höhenschwindel = körperlicher Effekt – auch Menschen, die Höhe nicht als bedrohlich empfinden, können kurzzeitig davon betroffen sein, nämlich wenn die nähere Umgebung plötzlich die Bezugsebene verliert – etwa wenn das Auge sich an den Anblick eines Weges gewöhnt hat und dann abrupt bemerkt wird, dass der Weg steil auf einer Seite abfällt.

Höhenintoleranz = Höhe wird lediglich als lästig/unangenehm empfunden, aber ohne Panikattacke.


Prof. Brandt hat in einer Untersuchung mit 3.500 Teilnehmer*innen herausgefunden, dass Frauen anscheinend häufiger von Höhenschwindel betroffen sind als Männer. Interessanterweise sei der häufigste erste Auslöser des Höhenschwindels laut dieser Studie die Besteigung eines Turmes! Nach solch einem Erlebnis empfänden die meisten Menschen ihre Probleme mit Türmen als schicksalhaft, unabwendbar.

Noch nicht ganz geklärt sei der Übergang zwischen Höhenschwindel und krankhafter Angststörung, es gebe da keine klare Trennlinie.

Als Ursache von „Höhenschwindel“ beschreibt ein Artikel der BKK körperliche Ursachen, die Angst auslösen und dann mit Lerneffekt in Verbindung mit der Höhe gebracht werden, also beispielsweise Kreislaufstörungen, Sauerstoffmangel, Muskelschwächen, Erkrankungen des Gleichgewichtsorgans, hohe Empfindlichkeit der Fußsohlen, die zum Schwanken führen.

Prof. Brandt empfiehlt als Prävention gegen spätere schwerwiegende Probleme mit Höhe, dass bereits im frühen Kindesalter spielerisch – beispielsweise mit Kletterwänden – geübt werde, die Höhe nicht als bedrohlich zu empfinden.

Das Wort „Klippenphänomen“ beschreibt das Zurückschrecken vor Abgründen schon bei Babies, die noch gar keine eigenen Erfahrungen mit Höhe gemacht haben.

Habe man aber bereits eine manifeste Höhenangst entwickelt, könne man im Erwachsenenalter nur mit langfristiger Verhaltenstherapie dagegen angehen. Und zwar Schritt für Schritt.

Das empfiehlt sich besonders für Menschen, die beruflich mit Höhen zu tun haben, Bauarbeiter*innen, Vielflieger*innen, Türmer*innen usw. Man könnte sich anderenfalls mit der Höhenangst arrangieren und konsequent Höhen vermeiden, so gut es eben geht.

Johann Wolfgang von Goethe ist ein prominentes Beispiel für eine gelungene Selbsttherapie bei Höhenangst:

Mit 21 Jahren (1770) ist er immer wieder den gotischen Münster-Turm in Straßburg hinaufgestiegen und hat sich oben gezwungen, wieder und wieder von der Plattform hinabzuschauen – bis ihm nicht mehr speiübel geworden ist:

„(…) Besonders aber ängstigte mich ein Schwindel, der mich jedesmal befiel, wenn ich von einer Höhe herunterblickte. Allen diesen Mängeln versuchte ich abzuhelfen, und zwar, weil ich keine Zeit verlieren wollte, auf eine etwas heftige Art und Weise. (…) Ich erstieg ganz allein den höchsten Gipfel des Münsterturms, und saß in dem sogenannten Hals, unter dem Knopf oder der Krone, wie man’s nennt, wohl eine Viertelstunde lang,  bis ich es wagte, wieder heraus in die freie Luft zu treten, wo man auf einer Platte, die kaum eine Elle ins Gevierte haben wird,  ohne sich sonderlich anhalten zu können, stehend das unendliche Land  vor sich sieht, indessen die nächsten Umgebungen und Zieraten die Kirche und alles,  worauf oder worüber man steht, verbergen. Es ist völlig, als wenn man sich auf einer Montgolfiere in die Luft erheben sähe. Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig ward (…)“ – Quelle: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. HA IX, S. 357f. (bei Spiegel Online im Gutenberg-Projekt verlinkt)

Konfrontationstherapie gibt es in der Jetzt-Zeit auch virtuell am Computerbildschirm, z.B. durch Brillen, in denen zwei LCD-Monitore Tiefe simulieren.

Die Türmerin von Münster kennt aus eigener Erfahrung die Höhenintoleranz – wenn sie auf „fremden“ Türmen unterwegs ist und abrupt in die Tiefe schaut, wird ihr etwas schwummerig, das ist lästig, aber geht schnell vorbei – don’t panic! 🙂 Wie geht es euch mit der Höhe? Gibt es positive oder negative Erfahrungen mit Türmen? Lasst es mich gerne wissen, schreibt mir eine Mail (tuermerin[at]muenster.de) oder via Facebook: www.facebook.com/tuermerinvonmuenster !

Und wer wissen möchte, was Goethe so von Münster, Westfalen, hielt und wie es ihm bei seinem einzigen Besuch (1792) bei der Fürstin von Gallitzin ergangen ist, dem lege ich außerdem als Vorgeschichte „Campagne in Frankreich“ ans Herz, eine autobiografische Schrift im Tempel-Verlag, erschienen 1811/12  – darin schildert er  seine Erlebnisse im Feldzug deutscher und österreichischer Monarchen gegen das jakobinische Frankreich, im Anschluss an diese furchtbaren Kriegserlebnisse reist Goethe nämlich nach Münster, doch das ist eine andere Geschichte, die zu einer anderen Zeit erzählt werden wird…