Gottfried Schäfers schreibt in „Münsters Originale. Die sich selbst ein Denkmal setzten“, Fahle Verlag, Münster 1983 (S. 102 ff.):
Seit dem 1. Oktober 1960 ist Roland Mehring der Türmer von Münster, sozusagen der Philosoph auf diesem Posten. Er grübelt dort oben über die großen Weltreligionen und beschäftigt sich mit der Astronomie. Alle paar Jahre macht er einen längeren Urlaub. Bisher zog es ihn nach Indien. Die Turmstube ist angefüllt mit einigen Büchern, einem Stuhl, einem kleinen Tisch, einer alten Couch; an der Wand hängt die Totenmaske seines Vaters.
Roland Mehring ist Türmer geworden, weil er aussteigen wollte aus der Hektik unserer Zeit. Als junger Soldat kehrte er schwerverwundet aus dem Krieg zurück, machte eine kaufmännische Ausbildung durch und besuchte in Heidelberg das Englische Institut. Dann hat er ein Jahr nichts getan. „Nur den Leuten habe ich zugeguckt, wie sie morgens zur Arbeit gingen. Den Rest des Tages habe ich es mir gemütlich gemacht.“
Als die Stelle des Türmers frei wurde, sagte er zu seiner Mutter: „Das ist genau der richtige Posten für mich!“ Er bewarb sich und wurde eingestellt. Und seitdem ist er mit sich und der Welt zufrieden. Er erzählt gern die Geschichte, wie seine Couch auf den Turm gekommen ist. Da sei er eines Tages in ein großes Möbelgeschäft gegangen, habe sich ein Stück ausgesucht und ausdrücklich danach gefragt, ob man wohl frei Haus liefere. „Aber selbstverständlich!“ hätte die eilfertige Zusicherung gelautet. Und der gute Ruf der Firma wäre Verpflichtung gewesen, das Möbelstück auch tatsächlich bis in die Turmstube zu schaffen.Ansonsten hat Roland Mehring aufgehört, „in dem Rennen da unten“ mitzumischen. Er bleibt wortkarg und will seine Ruhe haben. Wenn man ihn erreichen will, ist das nur möglich auf dem Umweg über die Leitstelle der Feuerwehr. Am nächsten Tag oder auch erst am übernächsten Tag, denn er hat pro Woche eine gewerkschaftlich erkämpfte dienstfreie Nacht, meldet er sich. Wem das nicht schnell genug geht, der sollte sich vor Augen halten, daß er das älteste Original Münsters zu sprechen gedenkt. Denn Roland Mehring hat eine lange Ahnenreihe.
Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, die Roland Mehring persönlich gekannt haben. Alle sind sich einig: Er war ein richtiges Unikat.
Er habe in der Werse nach Aalen geangelt und diese in der Spitze des Lambertikirchturmes geräuchert. Manchmal habe er draußen auf dem Umgang vor der Türmerstube mit seiner Geige gestanden und die Flaneure dort unten mit einem Liedchen erfreut.
In seiner Wohnung auf dem Gelände der Dyckburgkirche Richtung Handorf habe er Fässer voller französischem Wein gelagert und sich über Besuch einer befreundeten Gästeführerin mit einigen radelnden Tourist*innen gefreut, ab und an fand bei diesen Gelegenheiten auch ein geselliger Umtrunk mit besagtem Weine statt.
Einige Menschen erinnern sich, es sei 1960 nicht gerade selbstverständlich gewesen, den etwa 34jährigen Roland Mehring als Türmer zu verpflichten, im Rat habe es auch Stimmen gegeben, die eher einen deutlich älteren Herren auf dem Posten sehen wollten, aber er habe durch seine Bestimmtheit überzeugt, er wollte auf jeden Fall Türmer sein.
Mit seinem jüngeren Bruder Wolfram Mehring habe ich telefoniert; er hat ebenfalls seine ganz eigene Art gefunden, aus seinem Leben, das im Zweiten Weltkrieg unter denkbar ungünstigen und tragischen Umständen begonnen hatte, etwas ganz Neues und Erfolgreiches zu gestalten: Er ist Theaterregisseur und -intendant in Frankreich geworden, lebt jetzt in Freiburg und inszeniert bis heute Theaterwerke – im Alter von 86 Jahren. Wolfram sagt über seinen Türmer-Bruder, dieser sei gerade 18 Jahre alt gewesen, als er an der Front des Zweiten Weltkrieges schwer verletzt worden ist, die Nachricht erreichte den 14jährigen Wolfram in der Kinderlandverschickung, man machte dem kleinen Bruder keine Hoffnung, dass der ältere überleben würde.
Vor diesem Hintergrund kann ich es umso besser verstehen, dass Roland Mehring mit diesem sicherlich traumatischen Erlebnis, nach der Phase der Lehre und dem Studium in Heidelberg erst einmal eine Findungsphase brauchte, und dass der Türmerposten exakt für ihn passte – mittendrin in der Stadt, und doch mit Abstand zum Trubel am Fuße des Turmes, ein perfektes Gleichgewicht zwischen Geselligkeit und Eugenspiegeleien mit Sofalieferungen in die Türmerstube einerseits und der erholsamen Ruhe zum Nachdenken und Philosophieren in derselbigen Stube über den Dächern der Stadt Münster andererseits. Im Jahr 1994 übernahm dann Wolfram Schulze das Horn – seine Geschichte findet ihr hier (Klick!).
Links:
Autor Gottfried Schäfers (Klick!)
Dyckburgkirche (Konzerte) (Klick!)
Wie schön all diese Geschichten und Hintergründe bei dir zu lesen.
Sehr wissenswert.Danke dafür & einen schönen Sonntag ☺
Danke für das nette Feedback 🙂 Einen schönen Sonntag!