Wir schreiben das Jahr 1887: Der Turm neigt sich, es gibt Risse und Schäden, es ist vordem immer nur nach oben gebaut worden – ohne Rücksicht auf das Fundament; bereits 1871 wurde mit dem Umbau des Kirchendachs begonnen.
Pfarrer Uppenkamp, Pfarrer von St. Lamberti schrieb im Vorwort bei Max Geisberg 1942:
Auch verdient die Geschichte des Turmneubaus wirklich einmal eine alle Quellen berücksichtigende Darstellung, und es ist erfreulich, daß das Urteil des Verfassers über diesen Turmbau weit günstiger lautet, als die im Anfange unseres Jahrhunderts üblich gewordene Ablehnung in weiten Kreisen. Daß der unvermeidliche Abbruch des alten Turmes einen schmerzlichen Verlust bedeutet und die Pfarrkirche im Laufe der Jahrhunderte manche kunstgeschichtlich beklagenswerte Verluste erlitten hat, ist schon von A. Schütte {=Albert Schütte, Prälat – Anm. M. Saljé} anerkannt worden.
Der „alte“ Turm sieht so aus:
Weiterhin lesen wir bei Max Geisberg (S. 3):
Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß die heutige Lambertikirche das dritte Gotteshaus an dieser Stelle ist, und der 1881 abgebrochene, seit 1887 durch einen Neubau ersetzte Turm diesen drei verschiedenen Bauepochen der Kirche angehörte.
Die sichtbaren Zeichen der Vorgängerbauten am „alten“ Turm sind also mit dessen Ersetzung verschwunden. Das ist für die Kunsthistorikerschaft schade, zugleich bietet jeder Neubau auch neue Chancen, und die wurden hier definitiv genutzt. Doch dazu später.
Interessant in Hinblick auf das Türmer-Amt ist z.B. diese Feststellung zum historischen Turme bei Geisberg (S. 10):
Immer wieder betonten die Ratsprotokolle, daß der Kirchturm specula civitatis sei.
Ein Turmwächter im Auftrage der Stadt ist also für die Brandglocke und die Feuerwache zuständig.
Auf Seite 11 lesen wir:
Die ersten Nachrichten vom Überneigen des Turmes gehen in die Wiedertäuferzeit zurück.
Und weiter auf S. 15 weitere Hinweise über die Entwicklung des Turmes:
Von einem periculösen Schaden der Kirche bei dem Turm, wo die Treppe steht, berichten die Quellen zum Jahre 1617. (…) Schon 1638 zeigten sich Risse zwischen dem Turm und dem Gewölbe, die wohl durch ein neues Überneigen des Turmes verursacht sein werden.
S. 17f. berichtet:
Erst 1830 ist von einem Gerüchte die Rede, der Turm sei mehr aus seiner Lage gewichen und habe Risse im Mauerwerk erhalten. (…) Wieder im September 1858 beunruhigten Gerüchte von Schäden an dem Turm und der Südwestecke die Bevölkerung.
Es gibt weitere Gutachten, der damalige Bischof Johann Georg Müller erhält 1865 einen Brief des Kirchenvorstands, in dem nachdrücklich vor einer Katastrophe gewarnt wird, wenn der alte Turm nicht ersetzt würde. Vier Jahre später wird Hermann Joseph Kappen Pfarrer von St. Lamberti. Im Jahr 1869 beruft Kappen ein Komitee ein, das ein Programm zum Neubau des Turmes ausarbeitet. Sodann wird (siehe S. 19:)
eine beschränkte Konkurrenz eröffnet zwischen dem Paderborner Diözesanbaumeister Arnold Güldenpfennig (1830-1908, der aber ablehnte), dem 1862 vom Bischofe nach Münster berufenen Baumeister Hilger Hertel (1830-1890), Franz Xaver Lütz in Osnabrück (1840-1898) und August Rincklage (1843-1915).
Im Folgenden wird zunächst ein neues Dach entworfen. Das Komitee entscheidet sich für Hilger Hertel als Bauleiter und das Dach wird nach seinen Entwürfen gebaut. Das alte Pfannendach weicht einem neugotischen Schieferdach mit kleinen Querdächern über den Seitenschiffjochen.
Den so entstandenen Stilbruch beschreibt Geisberg auf S. 20:
Der alte Turm und das neue Dach bildeten einen Mißklang, der nicht zu beseitigen war.
Und so wird schlussendlich auch nach weiteren Gutachten endlich der alte Turm abgetragen.
Pfarrer Kappen sagt laut Chronist Julius von Ficker (zitiert nach Geisberg 1942, S. 27):
in einer Predigt 17.IX.1882, daß er von diesem Projekte als dem, dem Stil der Kirche allein entsprechenden, von geringen Einzelheiten abgesehen, nicht nachgeben werde. Ein anderes Projekt werde, solange er Pfarrer von St. Lamberti sei, nicht ausgeführt werden. Hier ist offen ausgesprochen, daß nicht Hertel, sondern Kappen der Urheber des Wunsches ist, der Kirche am Markt in Münster einen Freiburger Münsterturm zu geben.
Der Bauherr Hertel kämpft ebenfalls um „seinen“ Turm, wie Geisberg vermutet, nicht nur aus Ehrgefühl, sondern auch aus wirtschaftlichem Interesse heraus.
Oft wird der Vorwurf gehört,
die von Pfarrer und Baumeister getriebene Kirchengemeinde (habe leichten Herzens) den ältesten Turm der Altstadt gegen den höchsten eingetauscht.
Geisberg schildert jedoch demgegenüber detailliert die ungleich kompliziertere Geschichte des Abbruchs ab S. 28ff. und sagt
Ich will offen bekennen, daß ich zu denen gehöre, die den Turm für schön, für eine technische Leistung ersten Ranges und ein nicht geringes Kunstwerk halten, obwohl mir seine Vorbilder nicht unbekannt sind. Daß der alte Turm und das alte Dach nicht mehr das Stadtbild zieren, ist freilich gewiß schade. Daß es aber möglich gewesen wäre, sie zu erhalten, wird niemand beschwören wollen, wer die Geschichte jener zehn Jahre kennt.
Wenn man nun wie ich ausschließlich den „neuen“ Turm von 1898 persönlich kennt, ist man ziemlich erstaunt, dass dieser völlig harmonisch scheinende neogotische Turm NICHT immer schon genau so zur Lambertikirche gehört hat. Bei jeder Gelegenheit betrachte ich die Skizzen und Zeichnungen von den äußerlich völlig unterschiedlichen Türmen und wundere mich immer wieder aufs Neue. Dieser Turm, wie wir ihn kennen, wird natürlich auch in regelmäßigen Abständen genaustens untersucht, die nächste Begutachtung der Substanz und Co. wird voraussichtlich im Juli 2014 stattfinden, dann wird einige Tage ein großer Kran an der Kirche aufgebaut – aber erst, sobald die Turmfalkenbabies flügge geworden sind und sich nicht fürchten müssen!
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