In diesem Monat studiere ich ein sehr altes und ein neueres Buch auf dem Turm.
…das sehr alte Buch:
„Die Turmuhren mit Einschluß der sogenannten Kunstuhren. Praktisches Handbuch für Großuhrenmacher“, herausgegeben von Curt Dietzschold, Direktor der k.k. Uhrmacherschule zu Karlstein, Nieder-Österreich. Mit einem Atlas von 12 Foliotafeln. Bernhard Friedrich Voigt Verlag, Weimar 1894
…das neuere Buch:
„Stille Winkel in Münster und im Münsterland“, von Rudolf Großkopff. Ellert & Richter Verlag 2013
Das sehr alte Buch ist, wie man schon beim Lesen des Titels (Die Turmuhren mit Einschluß der sogenannten Kunstuhren. Praktisches Handbuch für Großuhrenmacher) versteht, ein absolutes Nerd-Buch – will sagen: Man stelle sich das bitte bildlich vor: Die Türmerin von Münster sitzt allabendlich (außer dienstags) in der Türmerstube oberhalb des Glockenstuhls und auch oberhalb der Kirchturmuhr. Sie lebt im Rhythmus der Turmuhr; 4 helle Glockenschläge (die Turmuhr sagt uns: eine volle Stunde bricht an!), nach dem Stundengeläut dann das Tuten und so weiter. Da MUSSTE ja früher oder später dieses Werk auftauchen, mit dessen Hilfe ich nun lernen kann, wie das komplexe mechanische Wunderwerk namens Turmuhr eigentlich funktioniert…
Turmuhren sind ein solch spezielles Thema, ich habe den Verdacht, wenn ich dieses Werk (in Frakturschrift!) durchgelesen und einen Bruchteil der Zeichnungen kapiert habe, bin ich gut gerüstet für eine potentielle Millionenfrage bei einem beliebten TV-Quiz – oder aber für den Stammtisch, um mal mit etwas anderem angeben zu können als immer nur mit Turmhöhen und der Anzahl der Stufen in europäischen Türmen und den Namen der münsterschen Türmer seit 1550 n. Chr. *gg*
Wenn man erstmal so ein Spezialthema gefunden hat, das einen – warum auch immer – fasziniert, erfasst einen bei der Beschäftigung eine Art Glücksgefühl. Alles scheint einem dann bedeutend und interessant; allein schon das Vorwort, in dem der Herausgeber berichtet, warum er für sein umfassendes Werk doppelt so lange brauchte wie vorgesehen, ist herrlich:
„Im Frühjahre 1889 trat der Herr Verleger mit der Frage an mich heran, ob ich die Abfassung eines Werkes über Turmuhren übernehmen wolle. (…) Schuld an der bedeutenden Verzögerung sind einesteils Gründe amtlicher Natur, andernteils solche die aus der Sache sich selbst entwickelten, zum Teile auch waren es Familienverhältnisse.“
Diese Ehrlichkeit ehrt ihn! Obschon man sich fragt, was denn bloß passiert war in seiner Familie…
Curt Dietzschold wurde 1852 in Dresden geboren, sein Vater war höherer Eisenbahnbeamter. Als der Maschinenbaustudent Curt im Alter von 21 Jahren auf der Wiener Weltausstellung eine Rechenmaschine des Charles Xavier Thomas sah, inspirierte ihn das zur Konstruktion eigener Maschinen, neben Präzisionsuhren baute er auch Rechenmaschinen. Als er 1879 Direktor der österreichischen Kaiserlichen und Königlichen Fachschule für Uhrenindustrie wurde, vergaß er die Rechenmaschinen und widmete sich fortan ganz allein den Uhren. Weiterhin ist bekannt, dass er erblindete und im Alter von 70 Jahren starb.
Im Vorwort des komplexen fulminanten Turmuhren-Buches heißt es außerdem noch:
„Einsichtsvolle Leser werden hoffentlich das Bestreben des Verfassers anerkennen, welcher sich bemühte, die volle Uebereinstimmung der wissenschaftlich begründeten Gesetze mit und an den Erzeugnissen des Uhrmachers zu beweisen und zu zeigen, wie mit Hilfe der physikalischen Gesetze vieles im vorhinein bestimmt werden kann, was der Fachmann oft erst durch Versuche bestimmt. In der fertigen Uhr sind aber die Verhältnisse meist so komplizierte, daß eine beschränkte Reihe von Versuchen durchaus kein abschließendes Urteil gestattet. Im Gegenteile, die oft ganz irrigen Schlüsse, welche gezogen werden, zeigen, daß die Versuche mit vollständigen Uhren meist nur die Resultate zu Tage fördern, welche die Prüfenden erwarten.“
Merke also: Die Beschäftigung mit Physik ist nicht nur allein für die Schule gut, sondern auch hilfreich im wahren Leben (heute besser bekannt als dieses „real life“, von dem alle sprechen), zum Beispiel als Turmuhrmacher oder Autor von Büchern über Turmuhren oder an Büchern über Turmuhren interessierte Türmerin!
Ich war in diesem Schulfach sicher nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber unser Physiklehrer hat es ja auch leider versäumt, uns mit Turmuhren und ihrer komplizierten Mechanik zu begeistern (herzliche Grüße an Herrn Bleckwehl nichtsdestotrotz an dieser Stelle!).
Der Autor des neueren Buches (Stille Winkel in Münster und im Münsterland), Dr. Rudolf Großkopff, ist 1935 in Münster geboren und hat Publizistik, Germanistik, Psychologie und Geschichte studiert. Mit dieser guten Mischung war er jahrelang journalistisch tätig und veröffentlichte zahlreiche Bücher. Er lebt heute in Berlin, Münster ist für ihn aber nach wie vor seine Heimat (so sagte er 2013 bei der Buchvorstellung in Münster).
Der Klappentext des vorliegenden Buches über die „stillen Winkel“ verkündet, auch Einheimische würden „einen anderen Blick auf die eigene Stadt und ihr Umland“ erfahren, und Reisende „erleben die Facetten einer Region, die ihnen sonst oft verborgen bleiben“; da ich selbst irgendetwas zwischen Reisender und jetzt hier Heimischer bin, freue ich mich über jede neue Erkenntnis und auch z.B. die Beschreibung des Prinzipalmarktes finde ich recht gelungen:
„Es gibt hier sowieso keine einzige Lichtreklame über den Geschäften, sondern nur deren in goldenen Lettern geschrieben Namen. Diese Dezenz steigert die sehr zurückhaltende Straßenbeleuchtung. In der Vorweihnachtszeit liegen zudem in allen Fenstern Lichtbänder, die aus Nadelzweigen hervorscheinen, und in den Bögen der Laubengänge hängen Kränze. Ein vor Jahren ausgeklügeltes und streng eingehaltenes Konzept sorgt für dieses anheimelnde Bild. Unwillkürlich denkt man vor allem nachts an Matthias Claudius: ‚Wie ist die Welt so stille und in der Dämmrung Hülle so traulich und so hold.‘ Wenn dann auch noch der städtische Türmer alle halbe Stunde vom Turm der Lambertikirche in sein Horn bläst, um der Stadt zu verkünden, dass kein Feuer und kein Feind sie bedroht, scheint es nicht mehr weit zum biedermeierlichen Kitsch zu sein. Aber das Gegenstück zur Gemütlichkeit hängt am selben Turm, in Form der berühmten drei Käfige.“
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