Das vierte Lichtlein brennt…
und heute gibt es eine gar gruselige Geschichte, die perfekt in diese neblige Zeit passt:
„Unsere Großmutter hat es oft erzählt – es ist in ihrer frühesten Jugend gewesen – da soll auf dem Gute Venhaus […] zu Weihnachten sich diese Geschichte ereignet haben…
Der Schäfer Janbernd war ein weitbekannter Spökenkieker, das heißt einer von jenen Heideläufern, die mit dem ‚Zweiten Gesicht‘ behaftet sind. Besonders in Mondnächten packte ihn dies würgende Rätsel, und wer ihm begegnete, wich scheu zur Seite. […]
Diesen Weihnachten wollte Janbernd nun auf einmal nicht zur Feier ins Gutshaus kommen, er schüttelte den fahrigen bleichen Kopf mit den wasserhellen Augen, er ginge nicht, er brecht’s nicht über sich… diesmal nicht! Und kaute die mageren Lippen vor innerem Entsetzen. Man fand sich ab mit seiner Schrulle […]
‚Gut, soll er draußen im Feld am Schäferkarren sein Bäumchen kriegen, dazu sein Paar woll’ne Socken, das Döschen Schnupftabak und den harten Taler!‘ […]
Weihnachten ist gekommen. Bleiern bimmelte die kleine Gutsglocke. Die wenigen Leute schwankten mit Windlichtern und schnaufend zur schindelsausenden Kapelle, drin das Weihwasser gefror, der Tränentau der Kerzen um die brennenden Dochte erstarrte. Atem der Gemeinde dampfte über gebückten Köpfen. Und draußen hörte man den Schneesturm knirschen und klatschen. […]
Der Rentmeister stapft morgens mit einem Sack hinaus. Er hört in den Forsten schon Tannen unter der Schneelast krachen. In der Tasche hat er wollene Socken, Schnupftabak, den harten Taler. Im Sack schleppt er Lebensmittel. So naht er der verlorenen Feldscheune. Sieht schon von weitem Janbernd vor der Tür die Hände in die Höhe werfen. […] Janbernd starrt ihn wie geistesabwesend an, rückt das Kipp in den Nacken, reißt die grauen Haarsträhnen der eingesunkenen Schläfe […]: ‚Das linke Fenster der guten Stube vorn – ich konnte genau den Weihnachtsbaum sehen – die goldene Kugel auf der Spitze erkennen.‘
Der Rentmeister kniff die entzündeten schmalen Augenlider im groben, wie aus Lindenholz gehauenen Gesicht – ihn packte Grauen –, er ahnte jetzt ein Vorgesicht. Was mochte unterdessen zu Hause geschehen sein? […] Er griff den Seher und stieß ihn vor, zurück, vor, zurück, wie willenlos schwankte der Körper, und brüllte: ‚Hat der Weihnachtsbaum die Stube angesteckt? Sind schon alle tot? Janbernd, Janbernd, Janbernd?’
Der schlotternde Schäfer senkt den Kopf, dreht ihn zur Seite, und mit einem kindlichen Staunen blitzt er und murmelt: ‚Das ist sonderbar… Ihr lebt ja noch?‘
‚Warum sollte ich denn nicht leben?‘
Doch des Rentmeisters Herz stockte zugleich, er wußte auch: kein Vorgesicht irrt sich – es geschieht, so oder so, niemand entflieht ihm!
Aber aus Janbernd ist kein Wortbrocken hervorzuzwingen. […]“
Diese Weihnachts-Grusel-Geschichte haben wir Josef Winckler (1881-1966) zu verdanken, einer sehr interessanten westfälischen Persönlichkeit – approbierter Zahnarzt (!), der sich entschied, Schriftsteller zu sein, seine Familie besaß das alte Töddenhaus, Haus Nieland, in Hopsten, er war verheiratet mit der Jüdin Adele, die während der Nazizeit in die Schweiz ausreisen konnte, und sein größtes Werk ist vielleicht „Der tolle Bomberg“, auf Grundlage großer Recherchen über die historische Gestalt des Gisbert von Romberg zu Buldern… verfilmt u.a. mit Hans Albers in der Hauptrolle …
Was hatte es jetzt aber mit des Schäfers Janbernds Prophezeiung auf sich? Was hat er wirklich vorausgesehen in des Rentmeisters guter Stube am Weihnachtsabend?
Er wird es dem Rentmeister schließlich noch erzählen, wie sie so in der Scheune zusammensaßen: Janbernds Vision beinhaltete eine Figur mit Zylinder, rotem Halstuch und dem Mantel des Rentmeisters, und zwar am Boden liegend, unbeweglich, wie tot…!
Sie beratschlagten, dem Schicksal zuvorzukommen, der Schäfer sollte den Weihnachtsbaum in einen entlegenen Raum umstellen, die Fenster alle schließen, dann wollte der Rentmeister sich wieder nach Hause trauen, denn nun sah es ja nicht mehr so aus wie in der düsteren Vision des Schäfers!
Als Janbernd aber auf das Haus zuging, sah er, wie die Kinder des Rentmeisters einen großen Schneemann gebaut und diesen mit dem Zylinder, dem roten Halstuch und dem Mantel ihres Vaters geschmückt hatten – und der Schneemann war just umgekippt und lag nun da, reglos, wie tot…!
Welch Erleichterung muss der Schäfer Janbernd da gespürt haben! Seine Spökenkiekerei war ja richtig gewesen – aber eben ohne den Tod des Rentmeisters! Als dieser davon erfuhr, wurde noch ein sehr schönes Weihnachtsfest gefeiert, mit Janbernd im großen Ohrensessel sitzend, dem Ehrenplatz.
Und damit wünsche ich euch auch
einen schönen Vierten Advent,
möglichst ohne beunruhigende Spökenkiekerei!
Eure Türmerin von Münster.
Passende Lese-Tipps:
Katja Angenent, Von Geistern, Gespenster und Gruselgestalten. Düstere Sagen und Legenden aus dem Münsterland. agenda Verlag, Münster 2022
Peter Wittkampf, Spökenkieker. Das Zweite Gesicht in Westfalen. Elsinor Verlag (Longinus), Coesfeld 2019
Ich wünsche der Türmerin ebenfalls ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein glückliches neues Jahr 2024!
Ja, eine wirklich schöne Spökenkieker-Geschichte zum Jahresende! Vielen Dank dafür und all die anderen Beiträge. Schöne Restfeiertage und einen guten Rutsch in neue Jahr, aber bitte nicht die Treppenstufen vom Turm der Lambertikirche hinunter :-))
Ich liebe diese Spökenkieker-Stories sehr! Dir und allen Leser:innen auch schöne friedliche Tage „zwischen den Jahren“ und einen gelungenen Rutsch ins Jahr 2024 – ich tute das Neue Jahr wieder traditionell an!