Die historischen Aufzeichnungen und Berichte aus Tagen, die keiner von uns miterlebt hat, geben doch immer wieder Anlass zum Staunen und Schmunzeln…

Wer hätte z.B. gedacht, dass Türmer verwarnt und bestraft worden sind, wenn sie ihr angetrautes Weibe und das Kleinkind in der Wiege mit in die Türmerstube nahmen und dann noch eine Kerze angezündet hatten?

So geschehen laut Strafprotokoll im Jahre des Herrn 1602 in Münster, Westfalen!

Der Hintergrund mag sein, dass die Türmerstube immer ausdrücklich eine reine Dienststube gewesen ist – keine Wohnung! – und Angehörige den damals noch täglichen UND nächtlichen Wächter (im Schichtdienst) nicht von der Arbeit ablenken sollten. Die Kerze wiederum war eine zu vermeidende Gefahrenquelle. Welch Schicksalsironie ergäbe sich, würde der Türmer draußen nach Bränden Ausschau halten, während drinnen in der Stube ein Feuer ausbricht…!

Weitere kuriose Konstellationen unserer schönen Stadt- und Marktkirche:

Dass die Lambertipfarrgemeinde der Stadt Münster das dauernde Recht einräumt, „auf dem Kirchturm einen Wächter zu halten, eine Wachstube zu haben und die Brandglocke aufzuhängen“, ist bis heute beständig und einzigartig und wurde zum Neubau des Turmes 1890 noch einmal schriftlich fixiert.

Die Handlungsleitfäden für die städtischen Bediensteten waren Gesetz, und das wichtigste Gesetz ist der Türmer-Eid. In allen mir bekannten europäischen Städten, die einen oder mehrere Türmer als Brand- und Kriegswache installiert hatten, gibt es ähnlich klingende Türmer-Eide. In Münster ist das Besondere, dass die Türmer sich möglichst gut mit allen beiden, „Dienstherr Stadt“ und „Hausherrin Kirche“, stellen mussten.

Aufbauend auf den Resten eines noch viel älteren Buches, das wahrscheinlich während der „Wieder-“Täufer-Zeit vernichtet worden ist, schrieb man 1545 in Münster ein neues „Aidt- und Huldungsbuch“, in dem auch der Türmereid verzeichnet ist:

 

Item ick love und swere, dat ick na dessen Dage will wesen der stadt Munster truwe und holt und den ersamen Borgermesteren und Raid darselvst horsam und bedensthaftich, ere beste to doen und er ergeste to laten na minen vif sinnen und verstande. Ock so will ick de wake up dem thorne to sunte Lambert des nachts wall waren und all ur blasent ruwelicke und doen de wake als mi dat gebort und van oldes gewontlich haft gewesen (…)“

Des Türmers Pflichten und Aufgaben sind in dieser niederdeutsch-westfälischen Eidesformel also genaustens festgehalten – in seinem langen Amtseide gelobt und schwört er vor dem Bürgermeister und dem Rat der Stadt Münster gehorsam, sein Bestes zu tun, und mit all seinen fünf Sinnen und Verstande auf St. Lamberti-Turm zu wachen:

Ich will die Wacht auf dem Turm von St. Lamberti des Nachts wohl wahrnehmen und die Glocke des Abends läuten und jede Stunde abblasen getreulich und die Wacht so tun, wie es meine Pflicht ist und es nach alter Gewohnheit stets so gewesen ist“.

Er soll ständig (im weiteren Text ist nämlich von Tag- UND Nachtwache die Rede!) oben auf dem Turm bleiben und nicht eher hinunter gehen, als bis im Sommer die Abendglocke ertönt und im Herbst und Winter die Stadttore geschlossen werden. So oft die Glocke eine ganze Stunde schlägt, will er sich mit seinen Instrumenten hören lassen, und er will darüber hinaus auch blasen, wenn er im Felde Volk zu Pferde oder zu Fuß anrücken sieht; wenn er Feuer und Brand an Häusern und Schornsteinen bemerkt, will er sofort die Brandglocke rühren und schlagen und in allen seinen Diensten will er aufrecht und fromm sich halten.

Viele Jahrhunderte sind zwei Türmer oben auf dem Turm gewesen, die sich in der geschilderten Weise die Wacht zu teilen und meistens sicherlich auch wirklich dienstbeflissen und pflichtbewusst alles oben genannte ausgeführt hatten.

Trotzdem gibt es wie oben bereits erwähnt hier und da erhaltene Strafprotokolle, die von grobem Unfug der Türmer von St. Lamberti berichten… und sind wir ehrlich: wenn sich jemand so richtig daneben benimmt und hart bestraft wird, liest sich dies um ein Vielfaches spannender … 😉

Wären alle Türmer Mustermenschen gewesen, dann wären heute nur ganz wenige archivalische Quellen vorhanden. Der alte Adam Geißler ist die Ausnahme von der Regel, dass es nur über Unfug Aufzeichnung gibt: Er hat nämlich länger als 40 Jahre (ab 1747) in Wind und Wetter Nacht für Nacht treu über die schlafende Stadt gewacht und dafür wiederholt lobende Anerkennung und münzklingende Aufbesserung bekommen!

Einige der, ähm, interessantesten historischen Beispiele von grobem Unfug – ja, geradezu grobem Unflat! – sind in den Quellen so beschrieben:

1600: Ermahnung, fleißiger zu sein und die „Unflätigkeiten auf dem Turm zu unterlassen“, sonst Bestrafung wegen Eidverletzung

1645: Verwarnung, der Türmer solle keine fremden Personen mit raufnehmen und keinen „Unrat“ machen, weil dies nicht das Kirchspiel schädige, sondern die gesamte Stadt.

1719: Drohung, ein Monatsgehalt einzubehalten, wenn er nicht aufhöre, fremde Personen mitzunehmen und mit ihnen oben zu zechen und „Unflat“ auf das Kirchendach und die Nachbarhäuser zu werfen.

1734: Warnung, keine fremden Personen mehr mit auf den Turm zu nehmen ohne Genehmigung des Bürgermeisters, außerdem solle der Türmer ab sofort aus eigener Tasche den Schaden zahlen, wenn wieder Namen in das „neu gelegte Bleidach“ eingeritzt würden (Anm.: gemeint ist das Renaissance-Kuppeldach vor dem Turmneubau Ende des 19. Jahrhunderts)

1735: Verwarnung wegen Mitnehmen von Fremden

Und in der Dienstanweisung von 1902 heißt es im dritten Paragrafen, dass jede Verunreinigung des Turmes, namentlich das Ausgießen des Nachtgeschirrs auf den Umgang oder das Kirchendach streng verboten sei. Dies gilt selbstverständlich bis heute!

Türmer sind auch nur Menschen, aber hier waren in der Tat spezielle Exemplare am Werk; Unflat/Unflätigkeiten sind in den hier erwähnten historischen Zusammenhängen mit moderneren Worten menschliche Exkremente, und wer im Suff mit denselben um sich schmeißt, hat gelinde gesagt nicht mehr alle Löffel im Besteckkasten.

Und die außerdem wiederholten Verwarnungen weil Türmer unbefugte Personen mitgenommen hatten, sprechen ja für sich… Sogar Familienangehörige hatten ja auf dem Turm nichts zu suchen:

1627: Verwarnung und Bestrafung: sie sollen „des Nachts ihre Weiber vom Turm lassen“ und das Saufen bleiben lassen und zukünftig nüchtern ihren Dienst tun

Wir gehen jetzt einfach mal davon aus, dass hier die eigenen „Weiber“ gemeint waren… 😉

Saufen, zechen, sich übelst daneben benehmen und dergleichen… kein Wunder, dass Türmer im Allgemeinen nicht gut angesehen waren. Das sollte sich im Laufe der Jahrhundert jedoch ändern, wie wir heute wissen.

Wichtig bleibt noch einmal die Feststellung, dass die erwähnten Fälle von grobem Unfug tatsächlich stattgefunden haben, aber sicherlich prozentual viel mehr Türmer ganz verlässliche, loyale und bescheidene Männer gewesen sind. Beziehungsweise haben zumindest die Türmer der jüngsten Vergangenheit, die noch im Bewusstsein vieler Münsteraner*innen sind, ihre ganz eigene und sympathische, ungefährliche Art von „Unfug“ ausgelebt – der eine fuhr im Urlaub mit dem Fahrrad durch Indien, der andere las auf dem Turm 5000 oder mehr Bücher, einer ließ sich schelmenhaft ein Sofa in die Türmerstube liefern, einer hatte in der Höhe des Turmes mehr philosophische Erkenntnisse als Platon und Hegel zusammen… Ganz ohne „Spleen“ oder „Türmer-Gen“ kann eben niemand diesen Beruf ausführen!