«Die allerschönste Winterpoesie knüpft sich an das Weihnachtsfest. Zu der Krippe in unserer Kirche wurden wir schon vor unserem schulpflichtigen Alter hingeführt, und wir bestaunten alles mit Entzücken, die Figuren in ihren bunten Kleidern aus Stoff, den strohgedeckten Stall unter den Tannen, Maria und Joseph, die so andächtig knieten, und das holdselige Kindlein, das so freundlich die kleinen Ärmchen ausstreckte…«

So erinnert sich Augustin Wibbelt in seinen Lebens-Erinnerungen*, die er als 79jähriger aufschrieb – das war 1940.

Augustin Wibbelt Portrait
Augustin Wibbelt. Quelle: Der versunkene Garten. Lebens-Erinnerungen von Augustin Wibbelt. Herausgegeben von Rainer Schepper. Aschendorff Verlag, Münster 2006 (7)

»… Nicht minder interessierten uns die kleinen weißen Schäfchen, die so brav im grünen Moose weideten und nicht im geringsten unartig waren. Ich dachte, die Schäfchen müßten auch wohl heilig sein, daß sie in der Kirche gar nicht blökten. Eine häusliche Christbescherung kannten wir noch nicht. Sankt Nikolaus hatte herkömmlicherweise das kinderfreundliche Amt der Bescherung, indem er nachts, auf seinem Schimmel vorbeireitend, den Teller füllte, den wir vertrauens- und erwartungsvoll draußen auf die Fensterbank gestellt hatten. Nicht ohne Bangen suchten wir des Morgens unsere Teller, denn es konnte auch eine Rute darauf liegen, wie uns oft genug warnend von den Großen gesagt worden war. Wir sind jedoch stets vor dieser Schande bewahrt geblieben und lobten den guten Bischof von Herzen…«

Augustin Wibbelt wird am 19. September 1862 in Vorhelm geboren – heute eine Ortsteil von Ahlen – und stirbt dort am 14. September 1947, kurz vor seinem 85. Geburtstag.

Schulkinder im Münsterland kennen bis heute Gedichte von ihm; besonders Dat Pöggsken (Das Fröschlein) wird gerne gelesen und auswendig gelernt:

Pöggsken sitt in’n Sunnenschien,
O, wat is dat Pöggsken fien,
Met de gröne Bücks!
Pöggsken denkt an nicks.
Kümp de witte Gausemann,
Hät so raude Stiewweln an,
Mäck en graut Gesnater,
Hu, wat fix
Springt dat Pöggsken met de Bücks,
Met de schöne gröne Bücks,
Met de Bücks in’t Water!

Plattdeutsche Gedichte und Geschichten und auch hochdeutsche Artikel zu weltanschaulichen Themen sind die eine Seite des Dr. phil. Augustin Wibbelt, der in Tübingen promoviert hat.

Die andere Seite: Am 26. Mai 1888 empfängt Augustin Wibbelt in Münster die Priesterweihe!

Der dichtende, schreibende Priester hatte verschiedene Einsatzorte: Als Kaplan in Moers, dann als Vikar in St. Martini zu Münster, versetzt nach Oedt am Niederrhein und danach Duisburg, und dann auf eigenen Wunsch nach Mehr bei Kleve, wo er fast dreißig Jahre wirkte, bis er 1935 in den Ruhestand und zurück ins elterliche Vorhelm ging, wo er an seine Kindheit zurückdenkt:

»… Der erste Weihnachtsbaum kam uns als eine völlige und märchenhafte Überraschung, die wir dem Vater verdankten. Bei uns und bei dem Kaufmann im Dorfe standen damals die zwei einzigen Weihnachtsbäume; jetzt gibt es wohl kein Haus mehr im Dorfe, wo kein Weihnachtsbaum aufstrahlt zum Entzücken der Kinder, denen es von Herzen gegönnt sein soll.
Nach meiner Berechnung war es Weihnachten 1872, und ich war gerade zehn Jahre alt geworden. Die Erinnerung lebt unauslöschlich in mir fort, denn selten hat ein Erlebnis einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht; ich kann es nur vergleichen mit der Primizfeier, die ja auch gewissermaßen eine Art Weihnachtserlebnis ist [Anmerkung: Die Primiz ist die allererste Heilige Messe, die der katholische Geistliche nach seiner Priesterweihe leitet]…«

Bis heute erinnert viel an Augustin Wibbelt, der offenbar ein ganz besonderer Mensch gewesen ist. Es gibt im Münsterland diverse Schulen und auch Wege, die nach ihm benannt sind. Die Augustin Wibbelt-Gesellschaft widmet sich der Pflege, Förderung und Erforschung der niederdeutschen Literatur und Sprache Westfalens. Für sein dichterisches Werk, das maßgeblich dazu beiträgt, dass das Westfälische Platt präsent bleibt, bekommt Wibbelt ein Jahr vor seinem Tode den Annette-von-Droste-Preis der Provinz Westfalen .

»… Wir Kinder hatten von den Vorbereitungen nichts bemerkt und hockten gegen Abend des hohen Festtages am Herdfeuer. Daß auf der Aktenstube eine stille, aber rege Tätigkeit sich entfaltete, fiel uns nicht auf. Der Vater hatte ja oft besondere Arbeiten zu erledigen, und dabei mußten ihm die älteren Geschwister mitunter an die Hand gehen. Die Mutter ging ab und zu in ihrer stillen Weise, und wir hatten leise die Frage erörtert, ob wir wohl an diesem hohen Feste Schokolade bekommen würden anstatt des herkömmlichen Tees, hüteten uns aber, diese Frage laut werden zu lassen, weil jede Topfguckerei strenge verpönt war. So gelang die Überraschung vollkommen. Wir stutzen, als auf der Aktenstube ein Klingelzeichen gegeben wurde, und als nun plötzlich die Tür aufging über der niederen Treppe, starrten wir regungslos und wie versteinert in das strahlende Licht des Weihnachtsbaumes, der jetzt sichtbar wurde. Wir dachten, ein Märchen sei Wirklichkeit geworden, und wagten uns nicht zu rühren, so daß die Mutter und lachend auffordern mußte hinaufzugehen. Zögernd stiegen wir die Treppe hinauf, voll Furcht, daß die herrliche Erscheinung wieder verschwinden möchte, aber sie blieb, und langsam begriffen wir, daß wir beschert werden sollten…«

Wibbelt war in seiner Münsteraner Zeit oft Gast in der Villa des reichen Mühlenbesitzers Kiesekamp, wo sich ein illustrer Kreis von Kulturschaffenden traf, hier gab es private Lesungen, Konzerte und Theateraufführungen. Gleichzeitig war Wibbelt Redakteur der katholischen Wochenschrift »Ludgerus-Blatt«.

»… Ich weiß noch genau, was wir für Geschenke bekommen haben: der Kleinste einen Hampelmann, der wie ein Turko gekleidet war [Anmerkung: frühere Bezeichnung der Fußtruppen der französischen Armee in Algerien], eine Erinnerung an den siegreichen Krieg von Siebzig, die Schwester eine Puppe, die sie selig in ihre Arme schloß; Bruder Rudolf eine Armbrust, deren Bolzen noch desselbigen Abends die Lampenkuppen zertrümmerte, ohne daß er Schläge bekam; und ich – ein Buch, das Liebste, das man mir schenken konnte…«

Das war also der erste Weihnachtsbaum auf dem Wibbelt-Hof in Vorhelm-Ahlen an Weihnachten 1872. Wibbelt selbst schreibt, obwohl er seitdem viele, viele Weihnachtsbäume gesehen hat, erschien ihm diese erste Tanne am hellsten von allen.

»… An den ersten Christbaum knüpfte sich in der Folge eine schöne Adventsgewohnheit: wir Kinder durften den Vater begleiten, wenn er kurz vor Weihnachten in unsern Wald ging, die Christtanne auszusuchen und zu schlagen. Er schritt dann stillvergnügt inmitten unserer tanzenden Schar, im blauen Leinenkittel, den er zur Arbeit über den Rock zog, das blanke Beil im Arm und das dampfende Pfeifchen zwischen den Zähnen…«

Und mit diesen schönen, harmonischen Lebens-Erinnerungen aus einer vergangenen Zeit, die durch die Literatur für immer lebendig bleiben, wünsche ich euch ebenfalls eine schöne, harmonische und hoffnungsvoll gestimmte Weihnachtszeit. Oder wie Augustin Wibbelt es ausgedrückt hätte:

Gesäignte Winacht un
glüksiälig  ni Jaor!
Eure Türmerin von Münster.


Quellen und Weiterführendes:

*Augustin Wibbelt, Der versunkene Garten. Lebens-Erinnerungen von Augustin Wibbelt. Herausgegeben von Rainer Schepper. Aschendorff Verlag, Münster 2006 (7. Auflage)

Augustin Wibbelt-Gesellschaft e.V.

Sammlung Wibbelt in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster (ULB)