Jeder Mensch hat seine eigene Art, mit den Geschehnissen auf der Welt umzugehen. Manche sagen: Geschichte wiederholt sich! Andere sagen: Geschichte reimt sich! Wieder andere sagen: Alles ereignet sich in Wellen! Wie bei jeder Binse, sind auch hier überall Spuren von Hülsenfrüchten und Wahrheit vorhanden.
Die Städtischen Türmer auf St. Lamberti hatten im Laufe der Geschichte der Stadt Münster so einiges mitbekommen und damit einiges, was sie individuell verarbeiten mussten. In den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges und in den Irrungen der „Wiedertäufer“ über hundert Jahre vorher müssen auch die Türmer – wie alle Bürger – Schlimmes erlebt haben. Jetzt gerade ist auch wieder so eine Zeit, in der viele Menschen eine Überforderungssituation erleben aufgrund der vielen Ereignisse und der gefühlten und tatsächlichen Gleichzeitigkeit. Es bleibt kaum oder gar nicht Zeit zur Verarbeitung.
Als ich kürzlich von einer Schülerin gefragt worden bin, was ich denn mache, um alles zu verarbeiten, und worüber ich oben in der Türmerstube auf St. Lamberti so nachdenke, fiel mir persönlich die Antwort leicht:
Musizieren und Recherchieren.
Musizieren vor allem außerhalb des Turmes, und Recherchieren als Bestandteil der geschichtlichen Erforschung rund um den Turm und Türmer im Speziellen und Allgemeinen. Und vor allem: Recherchieren als zentraler Bestandteil meiner Neugier, Neues zu erfahren. Das absorbiert mich oft regelrecht und dann lässt sich die weltliche Gesamtsituation viel besser aushalten!
Wie recherchiere ich?
Besuch im Stadtmuseum und LWL-Museum für Kunst und Kultur
Stöbern im Katalog der Stadtbücherei und der ULB
Stöbern im Stadtarchiv
Besuch im Tierheim (beim Flohmarkt gibt es oft super Münster/Münsterlandbücher!)
Gespräche mit Seniorenkreisen und anderen wissenden Zeitzeugen und Zweitzeugen
Die Erkenntnisse und Fundsachen werden dann in Notizform oder Digital- und Analogleihen in die Türmerstube zum genaueren Studium mitgenommen.
Meine aktuelle kuriose Entdeckung!
Das möchte ich unbedingt mit euch teilen: Heutzutage wird so viel über Verkehrswende, Tempolimit, Verkehrssicherheit und Infrastruktur von Städten gesprochen und geschrieben, deshalb lohnt sich hier ein interessierter Blick in Münsters Geschichte…
„Reiter und Fahrer müssen Fußgänger durch den lauten Zuruf ‚Platz da!‘ vor der Gefahr warnen.
Diese Vorschrift stand in der 1824 herausgegebenen ersten Straßenordnung der Stadt [Münster]. Zum höchsten Ziel erhob sie die Sicherheit auf den Straßen. Falls ein Kutscher einmal vergaß ‚Platz da!‘ zu rufen, war er im Falle eines Unfalls generell mitschuldig. Die bewohnten Straßen innerhalb der Stadt durften nur ‚in kurzem Trab‘ befahren oder beritten werden. Schritttempo war in engen Gassen oder auf Brücken erforderlich. Wo nur ein Wagen fahren konnte, musste bei Gegenverkehr derjenige halten, der den anderen Verkehrsteilnehmer zu erst wahrnahm – und dies in ‚schicklicher Entfernung‘.
Die Theaterbesucher sorgten für besondere Verkehrsprobleme. An- und Abfahrt der Kulturhungrigen war genau festgelegt. Die Vorfahrtsregeln richteten sich nach Stärke des Fahrzeugs und bei Kutschen nach der Vornehmheit ihrer Insassen. Für Kinder wurde verfügt:
‚Kleine Kinder sollen nicht ohne Aufsicht gelassen, und das freie Herumlaufen derselben auf der Straße, sowie das Sitzen und Liegen auf derselben nicht gestattet werden.‘
Jede Übertretung dieser Ordnung zog eine Polizeistrafe nach sich, wobei die Gendarmen 50 Prozent des Bußgelds als eigene Einnahme verbuchen konnten.“
„Fahrer“ – das waren schon damals u.a. auch Fahrradfahrer!
„Im Jahre 1816 hatte Carl Friedrich von Drais das Laufrad erfunden. Danach kamen Hochräder auf den Markt, ab 1885 das heute übliche Niederrad. Am Ludgeritor, Schützenhof oder Alten Fischmarkt gab es um die Jahrhundertwende Fahrradschulen, in denen man lernen konnte, das ungewohnte Gefährt zu bedienen. […] Es entwickelte sich auch zu einem beliebten Sportgerät. Unvergessen ist der münsterische Olympiateilnehmer Bernhard Knubel. Der Medaillengewinner fuhr – um Reisegeld zu sparen – mit seinem Rad zum Austragungsort Athen.“
Funfact
Nach seiner Rückkehr aus Athen übernahm Bernhard Knubel das Fahrradgeschäft seines tödlich verunglückten Bruders. Das Geschäft wurde erst um Motorräder und später um Automobile erweitert. Heute kennt man weithin die Autohäuser der „Knubel Gruppe“. Soviel zu dieser speziellen Transformation 😉
Die Stadt der Radfahrer
„In den zwanziger und dreißiger Jahren [des 20. Jahrhunderts] verfügte jeder vierte Deutsche über ein Fahrrad. In Münster dagegen war es bereits jeder zweite. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg war es allerdings verboten, auf der Promenade ‚auf Velocipeden zu reiten‘.
Fahrraddiebstahl stellte auch damals ein Problem dar. Der Unternehmer Walter von Falken richtete schon in der zwanziger Jahren die ersten Radwachen ein. Gegen eine Gebühr von zehn Pfennigen bewachte ein Angestellter vor öffentlichen Gebäuden oder vor der Badeanstalt abgestellte Fahrräder. Die Radfahrerzahlen stiegen in dieser Zeit so weit an, dass der Stadtvermessungsdirektor Clemens Brand begann, Münster ‚die Stadt der Radfahrer‘ zu nennen.“
Über den Wallheckenrand geschaut:
In Wunstorf bei Hannover wurde kürzlich ein neues Wahrzeichen eingeweiht: Zwei Fahrradtürme! Zur Pressemeldung über dieses innovative Bauwerk, in dem die Fahrräder kostenlos sicher eingeschlossen werden: HIER, Klick!
An dieser Stelle liebe Grüße an das Fahrradbüro der Stadt Münster (Klick!) und an die Interessengemeinschaft Fahrradstadt Münster (Klick!)…
So, wenn der Turmdienst beendet ist, reite ich wieder auf meinem Velociped nach Hause. Denn für eine richtige Türmerin von Münster gilt: #MdRzA (Mit dem Rad zur Arbeit), Ehrensache. PLATZ DA! 😀
Was hilft euch beim Aushalten der Gleichzeitigkeit der Weltereignisse? Schreibt mir gerne, vielleicht entdecke ich noch etwas Neues!
Eure Türmerin von Münster.
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