In Münster wird seit 1383 (und wahrscheinlich auch schon früher) vom St. Lamberti-Kirchturm aus gewacht, ob räuberische Banden die Stadt überfallen oder ein Feuer ausbricht. Der Türmer – seit 2014 die Türmerin – hält Ausschau und bläst ein Entwarnungs- oder Warnsignal (je nachdem…), und zwar nach Süden, nach Westen, nach Norden. Niemals aber nach Osten. Warum?

Was hat es mit der Himmelsrichtung Osten auf sich? Historisch gesehen wurden die meisten Kirchen so gebaut, dass der Altar nach Osten hin ausgerichtet war – weil nach tradierter Vorstellung der Gläubigen von dorther der auferstandene Christus auf die Gemeinde zukommen wird.  

Die Auslassung dieser zweifelsohne besonderen Himmelsrichtung beim münsterischen Signal der Türmer wird allerdings durch eine andere Legende erklärt: Goethes Totentanz stand hier Pate für die Vorstellung, dass in Richtung eines Friedhofs keine „Störung“ der Totenruhe (oder des sagenhaften mitternächtlichen Treibens der Toten) erfolgen sollte, damit es dem Türmer nicht auch Angst und Bange werde wie in Goethes Gedicht…

Einwände, dass doch in den jeweils anderen Himmelsrichtungen auch Friedhöfe gelegen haben mögen, lässt dieser Mythos nicht zu  – es ist schließlich ein Mythos und kein historisch verbürgter Fakt. Und weil es so schön schaurig klingt, wird die Geschichte vom Türmer, der das Totenhemdchen stiehlt, damit vom Turme winkt und voller Entsetzen merkt, dass das bestohlene Skelett sich aufmacht, am Turme emporzuklettern, immer wieder gerne von Münsters Türmerin zum Besten gegeben; ganz wie ihr Vorgänger es seinerzeit vorgemacht hatte.

Goethe selbst neigt dazu nachdenklich sein steinernes Haupt und lauscht dem abendlichen Tuten von seinem Standpunkt aus, am Westportal der St. Lambertikirche…

Goethe St. Lamberti

Goethe in Münster (Quelle: www.stadt-lupe.de)

Übrigens hat Goethe nicht nur im „Totentanz“ einen Türmer auftreten lassen – sehr prominent ist „der erste namentlich erwähnte Türmer der deutschen Literaturgeschichte“ (Zitat Wolfram Schulze, Türmer von Münster bis Ende 2013) – der heißt Lynkeus und spielt eine Rolle in Goethes „Faust“ (Zweiter Teil). Ja ja, der Goethe und die Türmer…

Wenn ich von Zeit zu Zeit die toten Taubenüberreste einsammel, die der Turmfalke hinterlässt, bekommt der Begriff „Totentanz“ eine völlig neue Bedeutung…

Hier ist ein Link des „Totentanz“ zur Vertonung von Carl Loewe (Youtube): http://youtu.be/jkKeaKFug6Q

Der Totentanz
Der Türmer, der schaut zumitten der Nacht
Hinab auf die Gräber in Lage:
Der Mond, der hat alles ins Helle gebracht,
Der Kirchhof, er liegt wie am Tage.
Da regt sich ein Grab und ein anderes dann:
Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann,
In weißen und schleppenden Hemden.
Das reckt nun, es will sich ergötzen sogleich,
Die Knöchel zur Runde, zum Kranze,
So arm und so jung, und so alt und so reich;
Doch hindern die Schleppen am Tanze.
Und weil hier die Scham nun nicht weiter gebeut,
Sie schütteln sich alle, da liegen zerstreut
Die Hemdelein über den Hügeln.
Nun hebt sich der Schenkel, nun wackelt das Bein,
Gebärden da gibt es vertrackte;
Dann klipperts und klapperts mitunter hinein,
Als schlüg man die Hölzlein zum Takte.
Das kommt nun dem Türmer so lächerlich vor;
Da raunt ihm der Schalk, der Versucher, ins Ohr:
Geh! hole dir einen der Laken.
Getan wie gedacht! und er flüchtet sich schnell
Nun hinter geheiligte Türen.
Der Mond, und noch immer er scheinet so hell
Zum Tanz, den sie schauderlich führen.
Doch endlich verlieret sich dieser und der,
Schleicht eins nach dem andern gekleidet einher,
Und husch ist es unter dem Rasen.
Nur einer, der trippelt und stolpert zuletzt
Und tappet und grapst an den Grüften;
Doch hat kein Geselle so schwer ihn verletzt;
Er wittert das Tuch in den Lüften.
Er rüttelt die Turmtür, sie schlägt ihn zurück,
Geziert und gesegnet, dem Türmer zum Glück,
Sie blinkt von metallenen Kreuzen.
Das Hemd muß er haben, da rastet er nicht,
Da gilt auch kein langes Besinnen,
Den gotischen Zierat ergreift nun der Wicht
Und klettert von Zinne zu Zinnen.
Nun ists um den armen, den Türmer getan!
Es ruckt sich von Schnörkel zu Schnörkel hinan,
Langbeinigen Spinnen vergleichbar.
Der Türmer erbleichet, der Türmer erbebt,
Gern gäb er ihn wieder, den Laken.
Da häkelt – jetzt hat er am längsten gelebt –
Den Zipfel ein eiserner Zacken.
Schon trübet der Mond sich verschwindenden Scheins,
Die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins,
Und unten zerschellt das Gerippe.
1813, Johann Wolfgang von Goethe