Die Türmerin von Münster zu Gast bei den Türmerkollegen in Nördlingen im Ries
Im September 2014 packt die Türmerin von Münster die Gelegenheit beim Schopfe und reist flugs durch Baden-Württemberg nach Bayern ins schwäbische Donau-Ries – nach Nördlingen.
Im August war ja einer der Nördlinger Türmer – Wilfried Rangette – zu Besuch in Münster auf St. Lamberti gewesen. Dass so schnell ein Gegenbesuch erfolgen konnte, ist eine glückliche Fügung.
In Nördlingen gibt es viel Ähnlichkeiten zu Münster (sowohl was geballte historische Ereignisse als auch was die Türmertradition angeht), aber auch viel hochinteressante Unterschiede. Beides möchte ich in diesem Kurzbericht in Ansätzen beschreiben und schon vorweg das Fazit stellen:
Nördlingen ist wunderschön, die Menschen sehr herzlich und für jeden Geschmack gibt es Programm und Sehenswürdigkeiten – für mich DER Reisetipp des Jahres für alle, die MÜNSTER schon kennen 😉
Die Stadt
Eine kaiserliche Urkunde von 898 verzeichnet die Übergabe des Königs-Hofes „Nordilinga“ von der edlen Frau Winpurc an den Bischof von Regensburg. Von dieser Bezeichnung ist das spätere Nördlingen abgeleitet.
Zu Kaiser Friedrich II. Zeiten (13. Jahrhundert) ist Nördlingen Freie Reichsstadt. Der Wittelsbacher und römisch-katholische Kaiser Ludwig IV. (Beiname: „Der Bayer“) baut im 14. Jahrhundert die Stadtmauer – noch heute gibt es sie, sie ist vollständig begehbar, ein einmaliges Erlebnis!
Im 16. Jahrhundert während der Reformationsbewegung wird Nördlingen überwiegend evangelisch – auch St. Georg ist heute eine evangelische Kirche – von innen gewaltig, eine richtige Hallenkirche eben, und die kunstvollen vielen Epitaphe an den Wänden haben mich sehr beeindruckt. Die Hauptorgel ist vor einigen Jahren abgebrannt, erzählte Kollege Wilfried mir – er habe den flackernden Schein des Feuers von draußen sehen können.
Während des Dreißigjährigen Krieges musste die Stadt vor den kaiserlichen Truppen in der Schlacht 1634 kapitulieren.
Anfang des 19. Jahrhunderts wird Nördlingen bayrisch und verliert die Reichsunmittelbarkeit (Stichwort Mediatisierung).
Blickt man vom Turm aus in Richtung Westen, sieht man die Ortschaft Pflaumloch – und diese liegt bereits in Baden-Württemberg. Die schwäbischen Dialekte um Nördlingen herum sind also teilweise bayerisch-schwäbisch, teilweise württembergisch-schwäbisch – für die norddeutschen Ohren der Türmerin von Münster klingt alles Schwäbische einfach total schön und melodiös!
Die Große Kreisstadt Nördlingen hat knapp 20.000 Einwohner (Münster liegt bei knapp 300.000).
Sehr gefreut habe ich mich darüber, dass sogar der Oberbürgermeister Hermann Faul sich die Zeit genommen hat, mich zu begrüßen. Darüber schrieb auch die Augsburger Allgemeine Zeitung.
Die Kirche St. Georg und der Turm Daniel
Im 15. Jahrhundert wird die St. Georg-Kirche gebaut, wie wir sie heute kennen – als spätgotische Hallenkirche; eine erste Form muss wohl schon um 1000 n. Chr. existiert haben, ähnlich wie in Münster die St. Lambertikirche.
Als Baumaterial diente „Suevit“ (lat. Suevia = Schwaben) – ein Gemenge aus 98 % kristallinem Grundgebirge mit Schmelzanteilen und 2 % Sedimenteinschlüssen. Entstanden ist dieses besondere Gestein vor 15 Milliarden Jahren bei einem Meteoriteneinschlag – daher auch die kreisrunde Vertiefung zwischen der Schwäbischen und der Fränkischen Alb, das sogenannte Ries.
Der etwa 90m hohe Turm wird (wahrscheinlich) nach der Bibelstelle 2,48 benannt: „…und der König erhöhte Daniel … und machte ihn zum Fürsten über die ganze Landschaft…“
350 Stufen (erst eine steinerne Wendeltreppe, dann sehr viele Holzstufen entlang der 4 Wände) führen auf den höchsten Aussichtspunkt, den sogenannten „Kranz“. Der diensthabende Türmer sitzt eine Ebene tiefer (insgesamt sind es sieben Ebenen!) in der Turmstube und kassiert das Eintrittsgeld der interessierten Tourist*innen und steht Rede und Antwort, außerdem gibt es Postkarten zu kaufen.
Um den Mittelpunkt Münsters, die Stadt- und Marktkirche St. Lamberti herum zählt man über 80 Kirchen; in einemText des Verkehrsamtes der Stadt Nördlingen heißt es: „99 Kirchtürme soll man von der Höhe des Daniels sehen und zählen können und wo immer man ins Ries kommt, sieht man schon von fern den Nördlinger Daniel.“
Wendelstein
Wendelstein (auch: Wendelstain) – so lautete der Name des Turms von St. Georg im Volksmund, erst im Laufe des 19. Jahrhunderts setzte sich „Daniel“ durch. Als 2009 eine dreifarbige Glückskatze wie aus dem Nichts auf dem Turm auftauchte, wurde sie „Wendelstein“ getauft. Mittlerweile ist sie offizielle Angestellte der Stadt, hauptamtlich im Bereich „Taubenabwehr“ tätig, aber auch das niedliche Posieren vor Kameras und Begrüßen der Gäste meistert sie mit Bravour. Als ich sie das erste Mal sah, schleckte sie sogar meine Hand, sie hat also erkannt: Ich bin eine Türmerin, ich gehöre also dazu. Diese Katze ist wunderschön und schläft gerne auf dem beheizbaren Teppich beim jeweils diensthabenden Türmer; sie bekommt Gehalt wie jeder städtische Angestellte, davon wird z.B. der Tierarzt und das Futter bezahlt. Sie ist frei zu gehen, wo immer sie hin will, kehrt jedoch immer treu an die Seite der Türmer zurück.
Die Legende – „So, G’sell, so!“
Mythen und Legenden gehören überall zum Türmerhandwerk, so auch in Nördlingen. Der allabendliche Ruf „So, G’sell, so!“, der zwischen 22 Uhr und 24 Uhr vom Daniel erklingt, hat folgenden Hintergrund:
Eines Abends vor vielen Hunderten von Jahren (1440) ging eine Frau aus dem Haus, um ihren Mann aus der Wirtschaft zu holen (oder um alkoholischen Nachschub zu besorgen). Sie bemerkte, dass an der Stadtmauer das Löpsinger Tor etwas offenstand und ein ausgebüxtes Schwein hindurchlaufen wollte. Offenbar sind die Torwachen vom Feinde (mutmaßlich Hans von Öttingen) bestochen worden, das Tor nicht zu verschließen. Die nächtliche Zeugin rief aufgeregt „So, G’sell, so!“ – ob in Richtung des Schweins oder des Torwächters, wird mal so, mal anders erzählt.
Der Vorfall als solcher ist schriftlich nicht bezeugt – jedoch steht außer Frage, dass zwei Torwächter im Jahre 1440 wegen Hochverrats verurteilt und exekutiert worden sind! Ein wahrer Kern bei Legenden ist eben immer vorhanden.
Der Türmer auf dem Daniel muss jedenfalls seit dieser Zeit „So, G’sell, so!“ in Richtung der Stadttore rufen und die Wachen mussten ihm antworten zum Zeichen, dass alle hochkonzentiert auf ihren Posten standen. Heute freuen sich vor Allem Tourist*innen auf dem Rathausplatz über den Türmer-Ruf: Oft antworten sie im stimmgewaltigen Chor, und dann freut sich wiederum der diensthabende Türmer und ruft noch einmal.
Türmer
Da der Dienst eines Türmers in Nördlingen bereits morgens beginnt und erst um Mitternacht endet, gibt es meistens fünf Kollegen, die den Dienst unter sich aufteilen.
Ein Licht oben im Turm zeigt den Bürger*innen auch nachts an, dass die Türmerstube besetzt ist. Es befinden sich zwei raffinierte Klappbetten an den Wänden in der gemütlichen Türmerstube. Fließendes Wasser und sogar eine Toilette gibt es auch im Daniel! Das muss natürlich so sein, da ja im Gegensatz zu St. Lamberti auf dem Daniel viele Tourist*innen ein und aus gehen.
Bis Anfang 2014 hatten die Türmer über die Turmpräsenz und den Ruf hinaus die Aufgabe, Wetteraufzeichnungen zu machen und weiterzugeben. Im Mittelalter war es – wie in Münster und überall, wo Türmer historisch verbürgt sind – in Nördlingen üblich, dass zwei Türmer sich die Wacht teilten und nach räuberischen Banden und Feuern Ausschau hielten. Im Flyer des Verkehrsamtes heißt es, nach einer Verordnung von 1481
„…mußten die Türmer bei Ausbruch eines Feuers das Feuerhorn blasen, bei Tag richtungweisend eine rote Fahne, bei Nacht eine große Feuerlaterne aushängen …“
– was für ein Horn dieses „Feuerhorn“ gewesen sein mag, habe ich leider nicht erfahren.
Aber ich habe bei meinem Besuch die Beobachtung gemacht, dass die Nördlinger Türmer allesamt musikalisch sind, hier sieht man zum Beispiel den Kollegen Günter an seinem schönen Flügel (nicht im Turm, sondern bei sich zu Hause, einem urigen Häuschen mutmaßlich aus dem 9. Jahrhundert):
Wir überlegen, eventuell eine Türmer-Band zu gründen und beim traditionellen Stadtmauerfest 2016 aufzutreten… genügend Know-How und Instrumente wären jedenfalls vorhanden!
Der jüngste, aber dienstälteste Türmer Ralf ist Inhaber und Betreiber des Berger Tores, ein Café mit Minigolfanlage im Stadttor samt Münzsägewerkstatt.
Bisher gab es nur männliche Türmer in Nördlingen – wie auch in Münster bis 2014. Die weitere Entwicklung werden wir auf jeden Fall weiter beobachten 🙂
Must-See And Must-Know
Was in Münster das „Turnier der Sieger“ (http://www.turnierdersieger.de/) ist, ist das „Scharlachrennen“ (http://csi-noerdlingen.com/) in Nördlingen; erstmals 1438 urkundlich erwähnt.
Und was den Münsteraner*innen ihr „Send“ (http://www.muenster.de/stadt/send/) ist den Nördlinger*innen ihre „Mess“ (www.noerdlinger-mess.info) – ursprünglich die mittelalterliche Nördlinger Pfingstmesse, erstmals 1219 urkundlich erwähnt.
In Münster sieht man vom St. Lamberti-Kirchturm aus die Baumberge und den Teutoburger Wald; in Nördlingen erblickt man den Berg Ipf und den Rand des Meteoritenkraters vom Daniel aus.
Während einer Verfolgungswelle der Hexenverfolgungen wurden auch in Nördlingen, wie in vielen deutschen Städten, viele Frauen und Männer angeklagt. Der Schadenszauberparagraph der „Constitutio Criminalis Carolina“ war Grundlage für die Denunziationen von neidischen und misstrauischen Menschen ihrer Nachbar*innen. Unter Folter wurden die haarsträubendsten Sachen gestanden. Interessant in Nördlingens Historie ist der Fall der Maria Holl, welche die Folter überlebte und viel später hochbetagt in einem Haus in der Innenstadt verstarb, welches heute noch steht.
„maria holl überstand 62 folterungen, zweimal mit den daumenschrauben, sechsundzwanzigmal mit dem stiefel, neunzehnmal wurde sie am strang aufgezogen und fünfzehnmal wurde sie auf die hobelbank gelegt, gestreckt und gespannt.“
(Quelle: http://www.querkariert.bplaced.net/sammelsurium.php?beitrag=183)
Über Maria Holl gibt es einiges an Literatur und die Tante des Türmerkollegen Günter spielte diese angebliche Hexe in dem vielgerühmten Theaterstück „Maria Holl – die Hexe von Nördlingen“ von Lore Sporhan-Krempel auf der Freilichtbühne in der Alten Bastei an der Stadtmauer. Die Roman-Vorlage entstand 1940 während der Nazi-Zeit.
Das „Klösterle“ – dieses ehemalige Barfüßer-Kloster diente während der Hexenprozesse als Gefängnis: Heute ist es ein Hotel.
Alle drei Jahre ist die Nördlinger Innenstadt autofrei und alle Einwohner*innen und sonstige Interessierte Menschen ziehen mittelalterliche Gewandung an zum Historischen Stadtmauerfest mit vielen Veranstaltungen, Musik und lukullischen Genüssen.
Im Rieskrater-Museum erfährt man alles über die Entstehung der außergewöhnlichen Landschaft, den Meteoriteneinschlag und auch über Meteoritenkrater in anderen Teilen der Erde. Sogar ein Teil des Mondgesteins der Apollo 16-Mission ist hier zu besichtigen.
Im Löpsinger Tor befindet sich das Stadtmauermuseum, welches die Geschichte von Deutschlands einziger erhaltener Verteidigungsanlage mit begehbarem Wehrgang zeigt.
Die Kirchenglocke, die am schönsten verziert ist, heißt die Stargarder Glocke – ursprünglich aus Stargard in Pommern (Marienkirche). Ihre bewegte Geschichte bevor sie nach Nördlingen gekommen ist kann man HIER nachlesen.
Links:
Stadt Nördlingen – die schönsten Ecken sind rund: http://www.noerdlingen.de/
Stadtmarketingverein: http://www.noerdlingen.biz/
Rieskrater-Museum: http://www.freunde-des-rieskratermuseums.de
Freilichtbühne: http://www.freilichtbuehne-noerdlingen.de/
Café Berger Thor und Münzsägewerkstatt: http://www.muenzenschneiden.de
Comic-Künstler Sven Todt: http://www.sogsellso.de/
Bayerisches Eisenbahnmuseum: http://www.bayerisches-eisenbahnmuseum.de
Hotel Klösterle: http://www.hotel.de/de/nh-kloesterle-noerdlingen/hotel-83790/
Bildende Kunst im Ries: http://www.kunst-im-ries.de/
Video über Turmkatze Wendelstein: http://www.youtube.com/watch?v=RFUhVnlS6Mw
Literaturauswahl:
Irma Krauß: „Das Wolkenzimmer“, Jugendroman, spielt in Nördlingen, der Daniel und der Türmer kommen zentral vor, cbj Verlag, München 2007
Dietlof Reiche: „Der Bleisiegelfälscher“, Jugendroman ab 14, spielt in Nördlingen um 1613, Beltz Verlag, Weinheim 2014 (6. Auflage)
Gloria Rüdel-Eschbaumer: „Der Hexenprozess Maria Holl. Mit Originalprotokollen aus dem Stadtarchiv Nördlingen vom Jahre 1593/1594“, Heimatverlag F. Steinmeier, Nördlingen 1998
Lore Sporhan-Krempel: „Die Hexe von Nördlingen. Das Schicksal der Maria Holl“, Heimatverlag F. Steinmeier, Nördlingen 2008 (3. Auflage; 1. Ausgabe: 1940)
Dietmar-Henning Voges: „Nördlingen seit der Reformation. Aus dem Leben einer Stadt“, C. H. Beck, Nördlingen 1997
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