In all den Umbrüchen, die uns heutzutage umgeben, ist die Türmertradition hier in Münster und anderen Städten (Krakau, Bautzen, Bad Wimpfen, Lausanne, Nördlingen, Schaffhausen, Lübben, Hamburg, Annaberg-Buchholz… und vielen weiteren Orten) eine feste verlässliche Kontinuität.
Getutet wird in Münster übrigens an allen Tagen außer Dienstagen (am sichersten Tag der Woche muss niemand aufpassen). Das bedeutet gleichzeitig: Falls der Heilige Abend und Silvester auf einen Dienstag fallen, hat die Türmerin frei. Dieses Jahr, 2024, ist dies der Fall. Schade! Denn der Blick von oben ist gerade an besonderen Tagen auch besonders interessant und schön. Was ich außer Aufpassen und Tuten mache? Recherchieren, Blogschreiben – und in der Vorweihnachtszeit geht es um ganz besondere Bräuche!
Jeder Ort hat andere Voraussetzungen und Schwerpunkte – andere Türme, andere Sitten… Hier in Münster melden mir viele Menschen zurück, dass für sie persönlich das lange Tuten (im Gegensatz zum kurzen, abgehackten Alarmsignal) eine beruhigende Wirkung hat im Sinne von: Das Türmerhorn klingt, hier ist alles friedlich! Ein gutes Gefühl, besonders in unsicheren Zeiten wie diesen.
Brauchtumspflege ist mir persönlich sehr wichtig und so habe ich mein Spezialinteresse zum Beruf gemacht – Münster gab mir diese Chance, dafür werde ich immer dankbar sein!
Bräuche können auch herausfordernd sein: Jemand anders könnte es sich vielleicht nicht vorstellen, an 6 Abenden die Woche 300 Stufen hochzuklettern, um Ausschau zu halten wie schon 1383 und darüber zu recherchieren. Für mich gehört es wie selbstverständlich zum Alltag. Dieser Brauch ist mir also sehr nah und geläufig.
Die Adventszeit nehme ich immer gerne zum Anlass, nach Jahreslauf-Traditionen zu schauen und mir weiteres Wissen anzulesen.
Und ich staune, dass manch einst fest verankerte Bräuche längst in Vergessenheit geraten sind, oder auch welch völlig neue, moderne Bräuche es auf einmal ins Münsterland schaffen!
Gemeinsam ist allen Bräuchen die Eigenschaft als Spiegel gesellschaftlicher Zustände, Gliederung der Zeit (z.B. religiös-liturgische Termine, Wechsel von Arbeit und Ruhe…), oder auch Übergangsrituale (z.B. Geburt, Beerdigung, Hochzeit, Kommunion…).
Dass sich Bräuche in ihrer Bedeutung und Ausgestaltung im Laufe der Zeit ändern, ist klar. Und manch uralter Brauch verschwindet vielleicht, wenn sich die Gesellschaft ändert, oder es wird wenigstens noch nostalgisch daran erinnert.
Einen solchen Fall möchte ich im heutigen Beitrag besprechen:
Das Schlachtfest
In einer früheren Zeit war auf Bauernhöfen des Münsterlandes die Selbstversorgung gang und gäbe. Auch wenn es heute wieder einen modernen Trend dazu gibt, waren es doch andere Zeiten, von denen ich berichten möchte.
Um St. Martini herum, in der kalten Jahreszeit, stand das Schlachtfest an. Geschlachtet wurde die fetteste Sau, und alles daran wurde verarbeitet – „nose to tail“, wie man beim Hofschlachter Ihres Vertrauens weiß und auch heute wieder praktiziert. Und ein Fest war es früher nicht zuletzt auch deshalb, weil alle auf dem Hof lebenden und arbeitenden Menschen beteiligt wurden, sondern darüberhinaus auch die gesamte Nachbarschaft. Man aß üppiger und in großer Geselligkeit. Wenn alles fertig war, wurde abends zur Schlachtvisite eingeladen. Die Nachbarn kamen mit einem besonderen Gruß ins Haus: „Vull Glück mett’n Dooden!“, damit begann jedes Schlachtfest.
Bis es soweit war, wurden verschiedene Aufgaben verteilt. Das Blut des Schweins zum Beispiel musste, bis es erkaltet war, stets ohne Unterlass fleißig gerührt werden, damit es nicht gerinnt. Wenn das Tier dann ausgeblutet war, musste es sofort abgebrüht werden, um die Borsten von der Haut zu lösen. Für das Brühwasser brauchte man also einen großen Kessel Wasser (oder mehrere), der bereit stehen musste. Auf der Seite des LWL-Medienzentrums für Westfalen könnt ihr einige Bilder sehen, die eine Idee davon geben, wie das alles ausgesehen haben mag: Klick!
Gertrud Rolfes berichtet in dem Buch Aus dem Leben einer Bäuerin im Münsterland (ein reichhaltiger Leseschatz!):
„Nachträglich muß ich noch beifügen, daß der Schlächter hohe Holzschuhe trug oder die sogenannten ‚Stiewelklumpen‘. Das waren hohe Holzschuhe mit Lederschäften daran. Er konnte sich somit am besten vor nassen Füssen schützen. Ab und zu bekam der Schlächter einen guten Klaren zu trinken, das war nun einmal Sitte, und es tat ihm bei der Kälte auch gut. Bloß man mußte auch Maß damit halten, überhaupt wenn er schon einige Schweine mehr geschlachtet hatte, dann konnte es wohl vorkommen, daß er zuletzt nicht mehr alle Haare sah…“
Und weiter beschreibt sie etwas, das mir schon einmal musikalisch begegnet ist:
„Wir kannten damals weder Einmachglas noch Gefriertruhe. Es gab nur Mettwurst, Pfannenwurst und Wurstebrot. Pfannenwurst wurde aus Buchweizenmehl gemacht. Es kamen Leber, Lunge, Herz und Speckwürfel darein.“
Quelle: Aus dem Leben eine Bäuerin im Münsterland, Gertrude Rolfes berichtet. Renate Brockpähler (Herausgeberin), F. Coppenrath Verlag, Münster 1981. Hier komplett digital lesbar: https://www.lwl.org/voko-download/BilderNEU/422_025Brockpaehler.pdf
Tönne Vormann prägte das schöne Lied „Möppkenbraod“: Ihr findet es auf der Platte „Tönne Vormann singt Westfälische Lieder zur Laute in Platt„. Das Lied ist jedenfalls nichts für vegan lebende Menschen und bräuchte heute wohl eine Triggerwarnung…! 🙂
Grüße an dieser Stelle an Clemens August und Hennes, die mir dieses und andere plattdeutsche Lieder aus Westfalen und dem Münsterland nahegebracht haben! Ich behalte das bei und singe Tönne Vormanns Lieder, wann immer ich in geselliger Runde – besonders in der kalten Jahreszeit – mit Gleichgesinnten zusammensitze.
Übrigens: Der WDR hat 2022 in seiner schönen Serie „Heimatflimmern“ auch das Schlachten in der kalten Jahreszeit und die Herstellung von „Möpkenbrot“ (hier in dieser Schreibweise) thematisiert.
In diesem Sinne: Ob mit Schlachtfest, Möppkenbraod oder völlig anderem Beisammensein mit Kichererbsen-Bowl – ich wünsche euch gerade jetzt in der berüchtigten kalten und dunklen Jahreszeit ganz viel innere Stärke zum Aushalten und im Idealfall auch etwas, das euch lächeln lässt wie mich das Historytainment!
Vielleicht kommt ihr einfach mal nach Münster und entdeckt die sechs (6!) wunderschönen Weihnachtsmärkte?! Alles erdenkliche Gute, bis bald,
Eure Türmerin von Münster.
Danke liebe Martje! Dein Bericht brachte mir Erinnerungen an das Schlachten im Elternhaus meines Vaters in Coesfeld, zu dem ein kleiner Schweinestall, eine Ziege, Hühner und Gänse gehörten. Schlachten bedeutete, dass die Kinder erst mal – natürlich – nicht dabei sein durften. Aber wenn das kochende Wasser dampfte, die Haare abgeschrappt wurden, das Schwein quasi aufgeklappt an der Leiter hing, der Fleischbeschauer seine Stempelmarken aufdruckte, Därme gefüllt und abgeteilt wurden etc,, dann waren wir dabei. Alles ein wenig einschüchternd, aber irgendwie auch normal. Hab ewig nicht mehr daran gedacht, jetzt aber mal versucht, alles zu aktivieren, was das analoge Archiv im Kopf so hergab. Das war (1. Hälfte?) der 50er Jahre, ich bin Dezember 1948 geboren. Trotzdem hab ich etliche Bilder wie eine Fotografie vor Augen; muss also doch sehr beeindruckend gewesen sein. Also danke nochmal fürs Wachrufen!
Mit freundlichen Grüßen
Walter Eink
Lieber Walter, vielen Dank für’s Teilen dieser persönlichen Erinnerungen! Ähnliches habe ich gerade mündlich berichtet bekommen. Herzliche Turmgrüße! Die Türmerin von Münster