Es ist immer etwas ganz Besonderes, wenn die Orgel in der Stadt- und Marktkirche St. Lamberti zum Konzert erklingt. 2018 gibt es hier zum Beispiel einen Bach-Zyklus, Johann Sebastian Bach – Das Orgelwerk in 12 Konzerten, und das ist wiederum auch etwas ganz Besonderes… aber 1989, zur Einweihung der neuen Orgel, war indirekt der Türmer mit beteiligt…

Die Orgel in St. Lamberti hört auf den Namen Schuke – denn den Bau einschließlich Planung und Gehäuse übernahm die Berliner Orgelwerkstatt Karl Schuke GmbH. Sie ist eine freitragende – schwebende – Orgel, auf einer Brücke von Seitenempore zu Seitenempore erbaut. Ernst Bittcher, von dem der Entwurf stammt, schreibt:

Jede größere Orgel ist klanglich und architektonisch ein Unikat. Die Lamberti-Orgel von Münster, das bemerkten in unserer Werkstatt die Konstrukteure als erste, übertrifft ihre Schwestern zweifellos an Originalität.

(Ernst Bittcher, Karl Schuke Berliner Orgelbauwerkstatt GmbH, 1989 in: Festschrift. 10 Jahre Schuke Orgel in der Stadt- und Marktkirche St. Lamberti zu Münster, 1989-1999)

Die schönen Ornamente in jedem Orgelpfeifenfeld stammen von Erich Brüggemann, ein Blattwerk, geschnitzt aus weicher Eiche. Der Künstler schreibt in der oben genannten Festschrift:

Wenn für die alten Bildhauer das Distelblatt gern stilisiert Verwendung fand, so hat für meine Blätter Eichenlaub als Vorbild gedient. Jedes einzelne Blatt ist anders entworfen und schwingt sich um die senkrechten Stiele.

(Erich Brüggemann, a.a.O.)

Auf dem Teilwerk der Orgel, welches sich hinter dem Rücken des Organisten befindet (in der Fachsprache „Rückpositiv“ genannt), befindet sich ein Text von Hannes Demming, seines Zeichens Spezialist für Münster, die niederdeutsche Sprache, Theater, vieles mehr – und eben auch für sogenannte Chronogramme (lateinische Sinnsprüche, deren große Buchstaben die römischen Ziffern bilden, auf die sich der Text bezieht):

CANTATE DOMINO VIVA VOCE IVGITER IVBILATE CANTICIS NOVIS – Chronogramm von Hannes Demming

Übersetzt heißt der Vers: Singet dem Herrn mit lebendiger Stimme – preist ihn allezeit mit neuen Liedern! Und die größer gesetzten Buchstaben sind gleichzeitig Ziffern und ergeben die Jahreszahl 1989, Fertigstellung der neuen Schuke-Orgel.

Zur festlichen Einweihung dieser wunderschönen schwebenden neuen Orgel gab es ein besonderes Konzert, Teil davon war eine Auftragskomposition des Komponisten Tilo Medek mit dem Titel „Quatember-Feste“. Hier kommt der Türmer ins Spiel:

Die vier Bestandteile dieser Komposition sind 1. Lambertussingen, 2. Der Turmbläser, 3. Engelecho, 4. Schnurrpfeifereien. Der Komponist schreibt dazu:

1. Lambertussingen. Das Brauchtum des Münsteraner Lambertusspiels muß eigentlich nicht vor Ort erklärt werden (…) Schließlich leitet das ‚Lied vom Kirmesbauern‘ den Kehraus ein: wie der ‚Bur‘ den Kreis des Kettenliedsingens fluchtartig verläßt, so flieht auch der Satz dahin.

2. Der Turmbläser ist ein fiktives Duo des Organisten mit dem Türmer von St. Lamberti (oder dem von Nördlingen, öfter kehrt in der Bundesrepublik Deutschland dieser Brauch nicht wieder). Beim Hörer soll der Eindruck entstehen, daß der Turmbläser zur Orgelempore hinabgestiegen ist, um gemeinsam mit dem Organisten ein lyrisches Stück zu musizieren.

3. Engelecho. Zufällig stieß ich auf dieses inspirierende Wort aus der Radartechnik. (…)

4. Schnurrpfeifereien nannten die Organisten und Orgelbauer all jene barocken Spielereien, die über das gebräuchliche Pfeifenwerk hinausgingen: Kuckuck, Nachtigall, Glockenspiel, Zimbelstern. (…)

(Tilo Medek, a.a.O.)

Prof. em. Dr. Gottfried Bitter CSSp (Congregatio Sancti Spiritus, eine römisch-katholische Ordensgemeinschaft) beschreibt den zweiten Satz „Der Turmbläser“ weiterhin wie folgt:

Ein alter Brauch – Zeit-Ansage der zeitlichen und zeitlosen Zeit – hat sich unter veränderten Bedingungen – auf dem Lamberti-Turm und nun in der Lamberti-Kirche – zu bewähren. Darum kein virtuoses Konzert für Trompete und Orgel, wie zu erwarten wäre (wobei die Orgel als die sogenannte Königin der Instrumente die Trompete, das Instrument der Könige, in sich aufnimmt), sondern eher ein musikalisches Streitgespräch zwischen der Zeit-Ansage des Turmbläsers und der Zeit-Ansage des Organisten bzw. der Gemeinde – darum auch im Hintergrund Marktgeschrei und Gebetsrufe. Zunächst formuliert die Trompete ihre Aussage sehr vorsichtig, sie bleibt im Quint- bzw. Oktavbereich, erst nach und nach wagt sie sich höher hinaus: in schnellen Läufen und Trillern – nur zögerlich folgt ihr die Orgel. Der ständige Wechsel von geradem und ungeradem Takt deckt die Härte des Streitgesprächs rhythmisch ab.

(Prof. em. Dr. Gottfried Bitter CSSp, a.a.O)

Wer die Gelegenheit hat, die außergewöhnliche Schuke-Orgel zu sehen und zu hören, sollte sie nutzen. Konzerte werden auf der Homepage der Gemeinde bekannt gegeben: www.st-lamberti.de (Klick!). Organist an St. Lamberti ist seit Juli 1989 Prof. Tomasz  Adam Nowak. Manchmal bereitet er sich abends noch vor, wenn ich zum Turmdienst die Stufen emporsteige – sein Weg zur Orgelempore besteht aus 59 Stufen (die beiden vor der Turmtür mitgezählt).

Schuke-Orgel in St. Lamberti, Münster