Am 25. Juni 1960 verstarb mit nur 54 Jahren der damalige Türmer von Münster, Franz Beiske.
Wer war Franz Beiske? Wie kam er zur Rolle seines Lebens? Und wer folgte ihm nach als städtischer Türmer auf der Stadt- und Marktkirche St. Lamberti?
Zum 61. Todestag meines illustren Vorgängers stelle ich euch meine Recherchen über ihn vor:
Franz Beiske, geboren am 27.5.1906 in Walstedde (damals Altkreis Lüdinghausen, seit 1975 Kreis Warendorf), war ein Jahr alt, als seine Familie nach Gremmendorf zog – hier setzte er sich zeitlebens aktiv für Tradition und Brauchtumspflege ein.
Den landwirtschaftlichen Milchviehbetrieb seiner Eltern wollte er nicht weiterführen, stattdessen machte er in Münster eine Lehre beim Kirchen- und Bühnenmaler Drees.
Er war Mitglied im Gremmendorfer Orts- und Schützenverein und feilte in seiner Freizeit an seinem Spezialinteresse, dem Dichten von niederdeutschen Versen und Geschichten. Sein erstes großes Bühnenstück sollte dazu dienen, die neue Vereinsfahne zum 10jährigen Jubiläum des Schützenvereins zu finanzieren – es wurde 1932 in der Gaststätte Heuckmann von Laienschauspielern aus. Gremmendorf aufgeführt und war ein voller Erfolg!
Das unter dem Titel ‚De Pengelanton‘ aufgeführte Stück schildert die Vorgeschichte zum Bau der Bahnstrecke Münster-Lippstadt der Westfälischen Landes-Eisenbahn (WLE). Die dabei auftretenden Querelen der Bahngesellschaft mit den Landwirten, die für den Streckenbau kleinere Teile ihrer Ländereien zur Verfügung stellen sollten, werden deftig ‚up Platt‘ auf die Schüppe genommen. Speziell ein Bauer aus Gremmendorf macht die meisten Schwierigkeiten, was darin gipfelt, dass er sogar seinen Bullen auf die ‚Geometers‘ (Landvermesser) hetzt. Diese Story hat Beiske dann nochmals in seinem wohl bekanntesten plattdeutschen Gedicht ‚De Pängelanton‘ verarbeitet. ‚Pängelanton‘ ist die volkstümliche Bezeichnung für die Dampfzüge der WLE, die sich an den damals meist unbeschrankten Bahnübergängen durch ein weithin vernehmbares „pängeln“ (plattdeutsch für bimmeln/läuten) ankündigten.
QUelle: Paul-Jürgen Hertiger, in: Straßennamen in Münster, Webseite des Vermessung- und Katasteramtes Münster („Franz-Beiske-Weg“)
Die Bühnentruppe spielte noch viele weitere Beiske-Stücke und gründete die Karnevalsgesellschaft Pängelanton mit, die wir ebenfalls bis heute kennen.
In den Nachkriegsjahren (nach dem 2. Weltkrieg) gab Franz Beiske sein Wissen über und seine Liebe zu Münster auch als Gästeführer an interessierte Besucherinnen und Besucher der Stadt weiter.
Als im Jahr 1958 der damalige Türmer Karl Greuling sein 65. Lebensjahr erreicht hatte und in die Rente verabschiedet worden ist, war Franz Beiske 52 Jahre alt und bewarb sich auf diese spezielle Tätigkeit mit Aufstiegschancen, 300 Stufen fast jeden Abend, Friedenssignale auf der Stadt- und Marktkirche St. Lamberti, in städtischen Diensten, mit Zeit zum Lesen und Schreiben und dem wohl schönsten Ausblick über die Dächer der wiederaufgebauten Stadt, ein Quell der besonderen Inspirationen… (und ich weiß fürwahr, wovon ich schreibe)!
Wie kam Beiske zum Türmen?
Am 22. März 1958 hieß es im Münsterschen Stadtanzeiger:
Der Türmer bläst z. Zt. nicht mehr
Seit drei Wochen vermißt die Bürgerschaft das nächtliche Blasen des Wächters über der schlafenden Stadt. Das vertraute Tuten des Türmers von St. Lamberti ist seit Ende des letzten Monats verstummt, da Karl Greuling infolge Erreichung des 65. Lebensjahres in den Ruhestand getreten ist. Wir erhielten zahlreiche Anfragen, wann der Posten des ‚höchsten Beamten der Stadt‘ wieder besetzt werde: denn die Münsteraner möchten auf keinen Fall ihren Türmer […] missen.
[…] Wer wird der neue Türmer auf St. Lamberti werden? So simpel dem Laien die Tätigkeit des Türmers erscheinen mag, so werden an den nächtlichen Wächter doch nicht unerhebliche physische Voraussetzungen gestellt, […] gute Lunge, […] gesundes Herz […]Doch wie wir hören, liegen schon für die Nachfolgeschaft Greulings verschiedene Bewerbungen vor, u. a. auch von einem bekannten Mitbürger aus Gremmendorf…
Quelle: Westfälische Nachrichten, Münsterischer Stadtanzeiger Nr. 69 vom Samstag, 22. März 1958
Am 1. Mai 1958 war es dann soweit, der „bekannte Mitbürger aus Gremmendorf“ Franz Beiske blies seine ersten Friedenssignale mit dem Türmerhorn – und die Westfälischen Nachrichten waren natürlich dabei und berichteten.
Franz Beiske sei als Brauchtumspfleger auf dem Turme auserkoren worden, heißt es, weil er sich als würdiger „Fremdenführer“ und heimischer niederdeutscher Bühnendichter bewährt habe.
Seine innere Spannung war nicht zu übersehen, die sich, wie bei einem Künstler vor der Premiere, auf seine Gesten übertrug.
Quelle: Westfälische Nachrichten, Münsterischer Stadtanzeiger Nr. 102 vom Samstag, 3. Mai 1958
Offenbar hat mein Vorgänger es vor Spannung auch nicht bis zum Glockenläuten ausgehalten, sondern tutete schon kurz vor dem Stundenschlag – und „tausende Ohren“ lauschten ihm mindestens ebenso gespannt auf dem Prinzipalmarkt.
Interessant ist auch, wie er genau dieselbe überschäumende Freude äußerte, die ich nur zu gut kenne:
Aber seine große Freude währte leider nicht lange:
Am Montag, 27. Juni 1960, vermeldete die Zeitung plötzlich den offenbar krankheitsbedingten, viel zu frühen Tod des Türmers Franz Beiske. Das hatte er sich sicherlich anders vorgestellt, so glücklich wie er auf dem Turme war. Nur zwei Jahre war ihm das Glück vergönnt.
Aus späteren Zeitungsartikeln erfahre ich, dass Beiske einige Monate mit seiner Krankheit, die nirgendwo benannt ist, zu kämpfen hatte; immer wieder verbrachte er Zeit im Krankenhaus und erholte sich zuhause. Während dieser Zeit hatte ihn sein Vorgänger Karl Greuling offenbar stets vertreten.
Bei der Beerdigung Franz Beiskes am Donnerstag, 30. Juni 1960, waren alle treuen Wegbegleiter dabei, Schützenverein, Sportverein, alle, die den Türmer, Bühnenbauer, Autor, Regisseur und Schauspieler gut gekannt hatten. Und: der berühmte Künstler Tönne Vormann sang ihm ein plattdeutsches Abschiedslied zur Laute. (Über Vormann wird es beizeiten einen eigenen Blogbeitrag von mir geben.)
Die Zeitung verabschiedete Franz Beiske öffentlich mit dem Satz:
Gott schenke nun ihm, der über die Ruhe der Stadt wachte, die ewige Ruhe!
Westfälische Nachrichten, Münsterischer Stadtanzeiger Nr. 147 vom Montag, 27. Juni 1960
Wie ging es jetzt weiter mit dem städtischen Türmeramt?
Ersteinmal machte der bewährte und verlässliche alte Türmer Karl Greuling, nunmehr 68 Jahre alt, mit den Friedenssignalen weiter. Doch die Stadt als traditionelle Arbeitgeberin suchte einen neuen Türmer, der das Amt dann hoffentlich lange – viel länger – ausüben würde. Und fand ihn schließlich in Roland Mehring, 34 Jahre alt, der im Oktober 1960 das Horn übernahm und erst 1994 wieder weitergab… und zwar an meinen direkten Vorgänger Wolfram Schulze, der wiederum fast 20 Jahre sein Turmglück genossen hat 🙂
Karl Greuling, der verlässliche Übergangstürmer nach Beiskes Tod, den ich in früheren Blogbeiträgen schon mal „Karl den I.“ nannte, da er der erste wiedereingesetzte Türmer nach dem II. Weltkrieg gewesen ist, zog in hohem Alter übrigens offenbar zusammen mit seiner Frau ins Altenheim Maria-Hötte-Stift (heute geführt durch die Caritas). Das erfuhr ich durch eine rührende Randnotiz:
„Zwei frohe Stunden erlebten die Bewohner und Schwestern des Altenheimes Maris-Hötte-Stift in den herrlichen Gartenanlagen am Düesbergpark. […] Bei einigen Liedern sangen die Alten mit Begeisterung mit […] Ein besonderer Gruß galt einem prominenten Bewohner des Hauses, nämlich […] dem ehemaligen Türmer von Lamberti! Karl Greuling (83 Jahre) und seiner Frau. […] Mit Begeisterung trug Karl Greuling anläßlich des Besuches eines seiner selbstverfaßten Gedichte vor.“
Quelle: Tanz und Gesang im Altenheim. ‚Dat Singen mäk uns wieder jung‘ / Gruß an alten Türmer, in: Westfälische Nachrichten, Münsterischer Stadtanzeiger Nr. 156 vom Donnerstag, 10. Juli 1975
1977 starb Karl der I. mit vollendeten 84 Jahren. Zurück zu Greulings Nachfolger: Wichtig zu erwähnen ist noch, dass Franz Beiske tatsächlich auch auf dem Turm von St. Lamberti weiter fleißig gewesen ist, auch was das Schreiben in niederdeutscher Mundart anging.
Auch sein letztes Bühnenstück, „Verscheidene Standpünkte“, schrieb er oben in der Türmerstube zwischen Tuuut und nächstem Tuuut. Es wurde erst nach seinem Tode welturaufgeführt, im Haus Heuckmann zu Gremmendorf, vor Freunden, Wegbegleitern und ausgesuchten Ehrengästen.
Und durch seine Witwe Agnes Beiske ist auch sein letztes Manuskript über den Türmer an und für sich bekannt geworden – sie schrieb nämlich an Walter Werland (quasi Vorgänger von Hannes Demmings heutiger niederdeutscher Kolumne, heute: Hüöwelspäöne, damals: Mönstersk Töttken):
Hier nun Türmer Franz Beiske im Wortlaut
aus ebenjenem Manuskript:
Eine der münsterischen Merkwürdigkeiten ist, daß in jeder Nacht, die uns des Tages Hast im Schlaf vergessen läßt, ein Mann auf dem höchsten Punkt der Stadt, auf dem Turm der Stadt- und Marktkirche St. Lamberti, Ausschau hält nach Gefahr, die da dräuen könnte oder - rückschauend auf vergangene Jahrhunderte - nach feindlichen Horden, die vor den Toren unserer Stadt Lager bezogen haben. Wahrlich, keine leichte aufgabe in vergangenen Zeiten, die aber dennoch für die Wohlfahrt der Stadt von solch ausschlaggebender Bedeutung war und ist. [...] In Münster ist man sich gewachsener Tradition bewußt. Darum, folgerten die Ratsherren dieser Stadt: Wenn irgendetwas verdient, unter obrigkeitlichen Schutz gestellt zu. werden, dann ist das der Tutemann auf St. Lamberti. [...] Und wenn drüben im Neuen Theater die „Meistersinger“ um den Siegeslorbeer ringen oder wenn am letzetn Abend des alten Jahres auf den Bällen die Geigen zum Tanze erklingen - den Türmer lockt alles das nicht. [...] Auch kein ängstlich Herz darf ihm eigen sein. So ist’s nicht jedem gegeben, dort oben auszuharren, wenn winters der Schneesturm schaurig in des Turmes Maßwerk heult oder sommertags ein Gewitter den Turm umknistert. Und trotzdem: Als Ausgleich dafür ist ihm oben über der Stadt manches gegeben, was dem Bürger nie beschieden ist, dieweilen er der Ruhe bedarf. Sei es nun der Blick auf die schneebestäubte Stadt im fahlen Mondlicht, auf die prächtigen farbgleißenden Sonnenauf- und -untergänge oder die Beobachtung des die Stadt mählich einhüllenden fallenden Nebels. Aus diesem Meer von wogendem, weißem Schaum und quellender Watte ragen dann allenthalben die Turmspitzen und grüßen den einzigen Mann, der mit ihnen über das wolkenartige Meer erhoben ist. Das ist grandios. [...] Auf jeden Fall: die Augen auf, gleich, wo man auch steht. Die Welt ist schön, und besonders schön ist unser liebes, gutes Münster!
In genannter Kolumne Mönstersk Töttken findet sich auch ein treffliches Gedicht von August Kurtz aus Angelmodde, das ich euch nicht vorenthalten möchte:
Ick seihe von Sünt‘ Lammerts Taorn
De schöne Mönster-Stadt
All Stund‘ blaos ick dat Tutehaorn
Un haolle trüe Wacht
Den Slaop bi Nacht haw ick ni kannt
Mien Auge is hellwach
Ick passe up den gier’gen Brand
Wel manks kümmp öwwer Nacht
De Büörger ruhig slaopen kann
He weet, dat eener wacht
Ick blaos em alle Stunnen an
So doh ick’t Nacht füör Nacht.
Mir bleibt jetzt nur mehr festzustellen: Bei so viel Traditionsbewusstsein, Liebe zum Turme und allgegenwärtiger Poesie fühle auch ich mich wohl und sehr verbunden mit Franz, mit Karl, mit allen meinen illustren Vorgängern, über die ich weiterhin so dütt un datt zusammentragen möchte. Vielen Dank an alle, die mir mit Informationen aus erster und zweiter Hand beim Historytainment weiterhelfen.
Eure Türmerin von Münster.
Links:
Franz-Beiske-Weg in Gremmendorf-Ost (Katasteramt, Straßennamen in Münster)
Karnevalsgesellschaft Pängelanton e.V. (Bühne, Museum, Karneval auf einer Webseite)
Karl Greuling (Karl der I. auf meinem Blog)
Danke für den informativen Bericht
berührend, hoffnungsvoll, tröstlich