Heute kennen und lieben wir unseren Turm der katholischen Stadt- und Marktkirche St. Lamberti zu Münster genau so, wie er ist, neogotisch spitz.

Doch der Turm ist erst 1898 in dieser Gestalt fertig erbaut worden, vorher sah er völlig anders aus, und genau aus dieser Zeit vorher (1859!) stammt dieser Artikel von Heinrich Geisberg (1817-1895, Stadtarchivar und Vater von Max Geisberg) – er berichtet von Rissen im Mauerwerk und einer bedrohlichen Neigung Richtung Westen, was schließlich – wie wir heute wissen – zum Abbruch und Neubau geführt hatte.

Interessant für mich sind vor allem die Stellen, an denen der Türmer erwähnt wird, sowie konkrete Beschreibungen, die es möglich machen, sich in alte Zeiten hineinzuversetzen. Ich stelle also hier in Ausschnitten vor, was damals geschrieben stand – viel Freude beim Nachspüren der münsterschen Lamberti-Geschichte! Zu verdanken habe ich die Entdeckung dieses Artikels dem Heimatpfleger Hans-Günther Fascies.


Aus: Westfälische Zeitschrift, 1859, Band 20, Assessor Hr. Geisberg. Der Lamberti-Thurm zu Münster; auch in: Joseph Prinz. Ex officina literaria. Beiträge zur Geschichte des westfälischen Buchwesens. 1968

Miscellen.

Der Lamberti-Thurm zu Münster. Von Assessor Hr. Geisberg.

Als Stadtwahrzeichen fuer Muenster gilt, wie man sagt, der Lamberti Thurm. Inmitten der Stadt und nahe dem Gewuehle des Marktes gelegen, leicht und kuehn emporsteigend, zeigt er dem beschauenden Blicke hoch oben am Gesims drei eiserne Koerbe, ein ernstes Wahrzeichen in der Geschichte unserer Stadt. Seit mehr als vier Jahrhunderten ist er der Zeuge aller bedeutenden Ereignisse und Erlebnisse der Buergerschaft; seine Glocken ertoenten nicht bloß zum Gebet und zu kirchlichen Festen in der Wiederkehr des Jahres; der Waechter des Thurms zog allabendlich die schwere Glocke als Warnung gegen Feuer und Brand, zog sie bei jeder Gefahr im Frieden und Kriege; ihr Ruf galt allen Buergern in ernsten und frohen Tagen, zur Wahl von Buergermeister und Rath, wie zur kriegerischen Zusammenrottung in Laischaften und Faehnlein. So ist der Thurm in der Erinnerung mit dem Leben der Bewohner der Stadt zusammengewachsen und, wenn die Geschlechter der Menschen mit Rang und Namen wie Schatten vorueberwandeln, kommen und verschwinden, jede neue Generation erachtet ihn wie das stolze Palladium der Buergerschaft und Stadt.

Ein Gemaelde vom Meister Hermann Tom Ring (im Dome hieselbst) aus der Mitte des 16. Jahrhunderts zeigt  den Lamberti-Thurm mit dem obern Geschosse, Kuppel und Spitze in derselben Gestalt, wie wir ihn noch heute kennen.

… um welches Gemälde mag es sich handeln? Ich erhoffe mir Hinweise von euch treuen Leser*innen, Bescheidwisser*innen und Auskenner*innen!

EDIT: Vielen Dank an Markus Schrick für den Hinweis: Es handelt sich um diesen Blick von Süd-Westen auf Münster (Public Domain, hochgeladen auf Wikimedia Commons von Immanuel Giel) , eine Arbeit von Remigius Hogenberg aus dem Jahr 1570 basierend auf einer älteren Zeichnung von Hermann Tom Ring: links die Überwasserkirche noch mit der ursprünglichen Turmhaube, mittig der St.-Paulus-Dom, rechts davon die Lambertikirche und rechts außen die Ludgerikirche: im Vordergrund vor dem Dom das Neuwerk als Teil der Stadtbefestigung am Eintritt der Aa in die Stadt. 

Der Thurm erhebt sich auf einer Quadratflaeche von je 28 Fuß Breite senkrecht zu einer Hoehe von 157 1/2 Fuß; oberhalb der Mauertheile fuehrt ein breiter Umgang um die steil aufsteigende achtseitige Kuppel, über welcher die freie Glockenstellung und die steile Spitze sich erhebt; die Hoehe von dem Umgaenge bis zur außersten Spitze mag 50 Fuß betragen. Der Rumpf des Thurmes erhebt sich in fuenf Geschossen und zeigt durchgehends eine Mauerdicke von 4 Fuß, in den beiden obern Geschossen jedoch für die Wandungen nur von 3 1/3 Fuß.

Dann beschreibt Heinrich Geisberg die Veränderungen am ersten Bau, Vermutungen, warum und wann die Geschosse höher gebaut worden sind (steigender Reichtum der Stadt? Kaufleute wollten einen höheren Turm als der Dom? …), allerdings bleibt zum mutmaßlich ersten Kirchbau von St. Lamberti auch einiges ungeklärt:

Keine redselige Inschrift kuendet von dem Erbauer oder dem Baumeister. Nur ein gepanzerter Arm als Wappen an der Fazade neben dem alten Thore deutet auf einen hochherzigen Stifter; auch dieses Wappen ist bei keinem der Geschlechter der Stadt oder des Landes nachzuweisen.

Ob der Weiterfuehrung des Baues Hindernisse entgegengetreten sind, wissen wir nicht; doch duerfen wir mit Fug an die Pest, welche im Jahre 1382 grassirte und nah der Chronik 8000 Menschen hingerafft hat, hier erinnern. Auch eine alte Sage bringt die Pest mit dem Thurmbau in Verbindung. Der Todtengraeber, heißt es, habe sein Gewerbe so wohl versehen, daß er ein bedeutendes Vermoegen sich gesammelt habe, groß genug, um das ganze oberste Geschoß des Thurms auf seine Kosten bauen zu lassen.

Noch heute wird alljährlich die Große Prozession durchgeführt, die auf die Pest von 1382 und die große Brandkatastrophe 1383 zurückgeht – und 1383 wurden sogar schon die Turmwächter auf St. Lamberti erwähnt, die schon damals im Dienste der Stadt standen! Die Sache mit dem Totengräber beschreibt später des Autors Heinrichs Sohnemann Max Geisberg als nicht wirklich haltbare Legende.

Ueber den fuenf Geschossen des Thurms erhob sich eine leichtere Holzstruktur, die italiaenische Kuppel mit Glockenstellung und Spitze.

Im folgenden werden die bilderstürmenden Täufer beschrieben, die im 16. Jahrhundert vor allem das Innere der Lambertikirche  zerstörten:

In der Lamberti Kirche richtete sich die Raserei jedoch zunaechst nur gegen allen inneren Zierrath; man riß auch die Pfannen vom Dache, ließ aber das Holzgerueste stehen, schonte auch der Kirche und zwar, wie Gresbeck (Anmerkung: Der Schreiner Heinrich Gresbeck öffnete mutmaßlich im Juni 1535 das Kreuztor, damit erstürmten die Truppen des Fürstbischofs von Waldeck die Stadt Münster und die Belagerung und das Täufertum hatten ein Ende) sagt, um des Thurmes willen, auf welchem man wegen des Feindes bei Tag und Nacht eine Wache unterhielt; bei fernerer Zerstoerung der Kirche, fuerchtete man, moechte der Thurm niederfallen.

Bereits in den folgenden Jahren des 16. Jahrhunderts gab es immer wieder Berichte und Hinweise über Schäden am Turm, Kämmereirechnungen zum Zweck der Restaurierung, Sanierung des Glockenstuhls etc. deuten darauf hin. Aber erst ein europaweit wütender Sturm im Jahr 1881 führte zur Entscheidung, den Lambertiturm niederzulegen und völlig neu mit verstärktem Fundament wieder zu errichten. Vorher gab es hie und da allerlei Gutachten und Untersuchungen:

Zehn Jahre ruhte die Angelegenheit, bis am 18. Juli 1841 ein starker Quaderstein vom Gesims des Thurmes sich loesete und neben einem jungen Manne auf die Erde schlug. Das gab Laerm. Das Gutachten des Bauinspektors Teuto erachtete indeß die vier untern Geschosse des Thurms als sehr stark und dauerhaft.

Aus dem Befund und Gutachten der mit der Untersuchung beauftragten Sachverstaendigen entnehmen wir folgende Thatsachen: Der Thurm ist nicht mit der Kirche, sondern nur in sich selbst verankert.

Sehr interessant sind auch folgende „kleinere“ Katastrophen nach Geisberg Senior:

1784 entstand ein Brand in der Thurmspitze als Folge eines Blitzstrahls. Gleiches erlebten wir im J. 1856.

Heinrich Geisberg war also im Alter von 39 Jahren Zeitzeuge eines Blitzeinschlages, der den Turm von St. Lamberti beschädigt hat! Genau wie ich im Jahr 2014 – bei einem immer wieder sich entladenden Gewitterwolkenkonglomerats inklusive Wassermassen und Sturm war ich sogar zunächst in der Türmerstube, ein Blitz ließ alles erschüttern, die Fenster gingen zu Bruch, Hochwasser im Turm… schlimm. Seitdem gilt bei jedem Unwetter ein erster Blick vor der Dienstzeit auf die amtlichen Hinweise des Deutschen Wetterdienstes…
Und der Geisbergsche Artikel endet episch in einem Plädoyer für einen Neubau, aber anders, als es letztendlich durchgeführt worden ist:

Gebaut werden muß doch einmal! Herrlich waere es, saehen  wir an der Westseite als festes Widerlager der Kirche zwei Thuerme stolz emporsteigen, zwischen ihnen Fazade und Portal, saehen im Innern der Kirche die Holzbalken zwischen des Pfeilern stuerzen, den Mittelaltar weichen, Kanzel und Altaere sich verjuengen, das Ganze rein und schmuck, und ob der Vollendung des herrlichen Werks jubelten nach langer Pause alle Glocken groß und klein! Die Lamberti Kirche waere sodann das schoenste Gotteshaus, der Stolz der Stadt und des ganzen Landes.

Wohlan denn – das schönste Gotteshaus, der Stolz der Stadt und des ganzen Landes ist sie doch aber allenthalben sowieso und überhaupt sehr wohl nichtsdestowenigertrotzdem!

Lambertikirche

Lambertikirche aus Richtung Alter Steinweg