Bei jeder türmerischen Reise werden sofort Vergleiche angestellt: Was sieht man? Was gibt es? Was ist los? Was hat Münster auch? Oder was haben wir nicht? – Fragen über Fragen!
Eines steht fest: Die Wittenberg-Reise war grandios – was einerseits am weltbesten Reisebegleiter liegt, und darüberhinaus natürlich an der sehr gastfreundlichen Stadt und ihrer Geschichte; sogar eine richtige Türmerin gab es in Wittenberg! Und das ist schließlich immer eine gute Sache 🙂
Wittenberg ist DIE Lutherstadt – hier predigte der große Reformator Martin in der Stadtkirche St. Marien, hier schug er der Legende nach 95 Thesen an die große Tür der Schlosskirche, hier wohnte und wirkte er.
1517 ist DAS Reformationsjahr, und damit haben wir jetzt, 2017, genau 500 Jahre Refomationsjubiläum – und schon auf dem Weg nach Wittenberg ist klar: Luther war hier!
Z.B. in Magdeburg, probiert mal den QR-Code aus!
Die Welt um Wittenberg ist deshalb auch gerade sehr international und gut besucht; die freiluftige Weltausstellung mit den „Toren der Freiheit“ (Klick!) ist über das gesamte Stadtgebiet verteilt, Stationen, Zelte, Vorträge, Filme, interaktives Erleben, Kunst und Kultur allüberall … noch bis zum 10. September! Ich schließe mich der Botschafterin Margot Käßmann an: „Da muss der Mensch dabei gewesen sein!“, sagt sie.
#Reformationssommer
r2017.org
… in Münster scheiterte die Reformation bekanntermaßen wegen der extremen Herrschaft der Täufer und dem schlussendlichen Sieg des katholischen Fürstbischofs … – und statt Reformation feiern wir hier deshalb im nächsten Jahr ganz groß den Katholikentag (Klick!), und jetzt gerade feiern wir wie alle zehn Jahre die freiluftigen Skulptur Projekte (Klick!) – und das bedeutet ebenfalls Kunst und Kultur allüberall im Stadtgebiet, außerdem: internationale Gäste, hüben wie drüben …
Durch Wittenberg fließt eine kleine Gracht, wer hätte das gedacht?!
Auf dem Marktplatz stehen Philipp Melanchthon und Martin Luther in Bronze herum und schauen dem Treiben zu.
Die Münster Information (Klick!) heißt in Wittenberg – Überraschung! – Wittenberg Information (Klick!) und befindet sich praktischerweise direkt gegenüber dem Publikumsmagneten schlechthin, der berühmten Thesen-Tür der Schlosskirche (Klick!). Die Original-Thesen-Tür ging leider im Siebenjährigen Krieg unter, aber 1858 ließ man eine Bronzetür an ihrer Stelle einbauen.
Im Kircheninneren schwebt die große Ernst-Barlach-Figur „Der Schwebende“ (eine Leihgabe aus Hamburg im Zuge einer Ausstellung der Stiftung Christliche Kunst) – was mich direkt an die schwebende Schuke-Orgel zuhause in der Münsteraner St. Lambertikirche erinnert; Schweben ist eine gute Erfindung.
Die Schlosskirche ist eine große massive Anlage mit einem markanten runden Turm mit Kaiserkrone, auf dem geschrieben steht: Ein feste Burg ist unser Gott ein gute Wehr und Waffen.
Es gibt auch noch einen zweiten Turm, der ist aber nicht erweitert und höher gebaut worden, deshalb fällt er nicht so auf, der große Anbau, das Predigerseminar, ist kürzlich saniert worden.
Wissen to go:
Die Schlosskirche heißt Schlosskirche, weil Kurfürst Friedrich der Weise ab 1489 an der Stelle der alten Wittenberger Burg ein Renaissanceschloss bauen ließ. Von der einstigen Anlage bildet die Schlosskirche den Nordostflügel.
Zum Zeitpunkt unseres Besuchs war der große, massive Turm nicht öffentlich zugänglich – er wurde gerade fit und sicher gemacht für Interessierte, ein Drehkreuz am Eingang soll zukünftig automatisch 25-30 Personen hinauflassen. Hier eine Galerie (beim Draufklicken öffnen sich die Fotos in groß zum Durchblättern):
Großes Glück: Der frischgebackene und sehr sympathische Küster Jörg Preller hatte ein Zeitfenster frei und zeigte uns den Turm von innen – und die Stadt schließlich von oben! An dieser Stelle dafür noch einmal herzlichen Dank und beste Grüße von Turm zu Turm.
Kleine aber wichtige Anekdote am Rande:
Herr Preller hat Verwandtschaft in Münster-Wolbeck.
Das stützt meine These, dass es egal sei, wohin ich reise, es werden immer Menschen vor Ort sein,
die eine Münsterverbindung haben.
🙂
Die Treppen – aus Stein und Metall – nehmen nur wenig Platz im Inneren in Anspruch; in der St. Lambertikirche in Münster besteht dagegen der gesamte Aufgang ausschließlich aus steinernen Stufen …
Fröhlich und erfüllt machen wir uns nach diesem einzigartigen Erlebnis an den Abstieg von 289 Stufen (fast so viele wie in Münsters Lambertikirchturm, da sind es 300 Stufen) und gehen dann noch einmal in die Kirche, unter deren Kanzel der große Reformator Martin Luther begraben worden ist.
An dieser Stelle auch noch einmal herzlichen Dank für den netten Kontakt und die Bereitschaft, meinen Artikel vorab gegenzulesen, an den Kustos Jörg Bielig vom Evangelischen Predigerseminar Wittenberg!
Und weiter geht’s durch das schöne Wittenberg:
Was bei uns in Münster Prinzipal-Express heißt und eine Kutsche mit unsichtbaren Pferden ist (Klick!), nennt sich in Wittenberg Altstadtbahn (Klick!) und ist eine kleine Eisenbahn auf unsichtbaren Schienen.
Was wir in Münster Aasee nennen, heißt in Wittenberg Schwanenteich (Bürgerstiftung, Klick!). Die Schwäne sehen zwar verdächtig nach Enten aus, but don’t judge a book by its cover, they say („das hässliche Entlein“ entpuppte sich schließlich anno dunnemal ebenfalls als stolzer Schwan).
Fahrräder sieht man in Wittenberg lange nicht so viele wie in Münster, wo sie in Rudeln auftreten, um sich stetig zu vermehren; aber immerhin gibt es den beliebten Elbe-Radweg und sogar die eine oder andere Fahrradstraße.
In der Einkaufsstraße begegnet uns unverhofft eine Fassade, die an das Münsteraner Hotel Mauritzhof (Klick!) erinnert – doch es handelt sich hier um das Shopping-Center „Arsenal“ (Klick!), quasi das Äquivalent zu den Münster Arkaden (Klick!): der direkte Foto-Vergleich ->
Und dann stehen wir vor der beeindruckenden Stadtkirche St. Marien mit den beiden schönen Türmen, verbunden durch eine Turm-Brücke in der Höhe.
Was ihr beim Pub-Quiz gefragt werden könntet:
Was haben der Turm der Münsteraner Liebfrauen-Kirche und die Türme von St. Marien zu Wittenberg gemeinsam?
Lösung:
Auf beiden Türmen wurden Geschütze aufgestellt!In Münster bekanntlich 1535 durch die Täufer (die ganze Geschichte lest ihr hier: Klick!), und in Wittenberg durch den Kurfürsten Johann Friedrich (welcher eine Belagerung durch den Kaiser Karl V. und die mit ihm verbündeten katholischen Fürsten als Gegner des Schmalkaldischen Bundes befürchtete – zur Belagerung kam es zwar gar nicht, aber der arme Kurfürst wurde 1547 gefangen genommen, und die Stadt wurde ausgeliefert).
Dort hinauf, das wäre fein! Geht für die breite Öffentlichkeit aber gerade nicht, auch hier wird fleißig renoviert und saniert, und zwar in liebevoller und kompetenter Arbeit durch den Heimatverein Lutherstadt Wittenberg und Umgebung e.V. (Klick!).
In der Stadtkirche predigte Martin Luther, und hier führte er das Abendmahl ein.
Dunkles Geschichtskapitel:
Ähnlich wie auch die Münsteraner Stadt- und Marktkirche St. Lamberti ist die Wittenberger Stadtkirche St. Marien Stätte eines düsteren Kapitels der jeweiligen Historie:
Was die Körbe der Täufer bei uns immer wieder an kontroversen Diskussionen auslösen (kurz: „entfernen!“ oder: „behalten!“) entzündet sich in Wittenberg immer wieder an dem Steinrelief an der südlichen Außenmauer, ein Bildnis der sogenannten „Judensau“, das es an einigen christlichen Kirchen gab und bis heute gibt (!), eine mittelalterliche Schmähskulptur in widerlicher Bildsprache.Eine Petition fordert gerade die Entfernung des antisemitischen Reliefs. Im Sinne des Denkmalschutzes und der Erinnerung auch an schlimme Episoden der Menschheitsgeschichte sind solche Originalexponate am Originalort andererseits auch wertvolle Zeugnisse.
Am 11. November 1988 wurde eine Bodenplastik des Künstlers Wieland Schmiedel sozusagen als Kontrapunkt eingeweiht, umgeben von einem Text des Berliner Dichters Jürgen Rennert, der sich bereits zu DDR-Zeiten für die christlich-jüdische Aussöhnung einsetzte.
Die Diskussion wird sicherlich weitergeführt werden.
Die Turmaufbauten an St. Marien gehörten bis 2010 der Stadt, und hier oben befand sich die Türmerwohnung. Seit 2011 gehören auch die Türme wieder der Kirche, und der Heimatverein kümmert sich um den Erhalt der Türmerwohnung.
Hier eine kleine Galerie der Türmerwohnung auf St. Marien (durch Draufklicken öffnen sich die Fotos in voller Größe):
Anna Otto (welch wundervoller Name! Zwei Palindrome!) war die letzte Türmerin auf St. Marien, sie verstarb am 28. Mai 1945 im Alter von 84 Jahren. Zuletzt musste sie leider ins Krankenhaus.
Sie übernahm einst nach dem Tode ihres Mannes – der eigentlich das Türmeramt innehatte – alle Pflichten auf den Türmen, das Glockenläuten gehörte auch dazu – bis die Elektrizität Einzug erhielt.
Die Feiertagsglocke und die Sonntagsglocke wurden mit einer Wippenvorrichtung von zwei Männern geläutet – die Familie Otto hatte sechs Kinder, zwei von ihnen starben leider sehr früh. Aber als die Söhne groß waren, halfen sie mit. Die Scharnette, eine kleine Glocke, wurde mit einem Seil geläutet, wenn ein Kindergottesdienst stattfand.
Außerdem gab es ein viertelstündliches Tuten mit dem Hörnchen nach Osten und Westen. Die Turmuhr musste nach 24 Stunden immer wieder aufgezogen werden, dazu bekam die Türmerin Besuch von einem Uhrmacher. Erst 1980 wurde auch hier modernisiert und eine automatische Mechanik eingebaut.
Wer immer auch Anna Otto besuchen wollte, zog an einem Draht, der vom Nordturm hing. Die Türmerin ließ dann ein Körbchen mit dem Schlüssel hinunter. Sie war so bekannt, dass 1933 sogar in Buenos Aires ein Artikel in einer Zeitung für die deutsche Leserschaft erschien und jemand dort daraufhin ein Weihnachtspäckchen für sie „an die Türmerin von Deutschland“ schickte – und das Päckchen kam tatsächlich an!
Eine kleine Galerie vom Aufstieg der St. Marien-Türme zum Durchklicken
(beim Klick öffnen sich die Fotos in groß):
Der Türmer Hermann Otto war eigentlich Dachdecker und bekam die Türmerstelle 1897 im Alter von 34. Da war er schon seit 9 Jahren mit Anna verheiratet. Leider wurde er schwer krank und verstarb schon mit 58 nach langem Leiden oben in der Türmerwohnung im Jahr 1921.
Daraufhin beantragte seine Witwe, die zwei Jahre älter war als er, hier oben wohnen bleiben zu dürfen, mit allen Pflichten und Aufgaben.
Auf allen Fotos, die der Heimatverein zusammengestellt hat, lächelt die alte Dame total liebenswürdig, einmal sitzt sie am Fenster mit einer weißen Katze auf dem Schoß – oh, wie gerne hätte ich sie kennengelernt! In einem Zeitzeugenbericht heiß es von einem Besucher, der nach oben steigt:
„… das Seil verschwand in der Höhe; das Schloß war gut instand, und ich schloß hinter mir zu! Es roch etwas nach Katze… Der geheimnisvolle Hauch des Mittelalters umfing mich mit des Turmes gewaltiger Mauerhalle, und das Treppengebälk knarrte unter meinem einsamen Steigen… und da huschte auch ein grauer Schatten vorbei und verschwand im Dunkel —! Die Katze!“
Very interesting place