Seit ich Türmerin von Münster bin (2014) suche und sammle ich alles über die Männer, die vor mir seit 1383 Turmdienst hatten. Ihre Namen, ihre Lebensgeschichten, alles, was ich finden kann in den Archiven, Bibliotheken und Privatsammlungen.
Die bei weitem erstaunlichste Geschichte ist die von Joseph und dem schiefen Turm von Münster. Und die geht so:
In der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es immer wieder Anzeichen dafür, dass der alte Turm von St. Lamberti sich bewegt, gen Westen neigt. Risse bilden sich, Steine bröckeln und lösen sich. Es werden Messungen und Gutachten erstellt, man ist sich einig: es liegt vor allem am Fundament – auf Sand gebaut…
Unklar bleibt aber sehr lange, ob der Turm gerettet und stabilisiert werden kann, oder ob man ihn doch abtragen sollte, das Fundament verstärken, neu wieder aufbauen. Schließlich ist klar: Ein Neubau muss her. Namhafte Architekten werden mit Entwürfen beauftragt, und zunächst wird das alte Dach der Kirche erneuert – Hilger Hertel heißt der Baumeister.
Wohin aber nun mit dem Türmer, wenn alles niedergerissen und neu gebaut werden sollte?
Einsparen? Aber mitnichten! Denn der Türmer von Münster ist im Laufe der Jahrhunderte zu einem Traditions-Symbol geworden, der zur Lambertikirche gehört wie Familie Duck zu Entenhausen (oder so ähnlich).
Joseph Sirleke gnt. Buschkötter, seines Zeichens Türmer von Münster von 1878 bis 1907, floh schon mal 1881 in einer extremen Sturmnacht vom Turme und brachte sich in Sicherheit in sein Haus hinter dem gerade im Bau befindlichen neuen Zentralbahnhof.
Der Sturm von damals brachte St. Lamberti – damals noch etwas niedriger und mit Kuppeldach – nämlich zum Schwanken, es lösten sich weitere Steine, und Joseph hatte offensichtlich Angst um sein Leben.
Was ich noch herausbekommen konnte:
Joseph hat eine Schank-Erlaubnis und braut Bier, das er mutmaßlich vor allem an die Bahnarbeiter aus seiner Wohnstube heraus verkauft. Und als dann tatsächlich „sein“ Lambertiturm aus Sicherheitsgründen abgetragen werden muss, hat die Stadt schnell eine Übergangslösung gefunden:
Türmer Joseph bekommt Turmasyl auf der benachbarten St. Martini-Kirche (beim heutigen Theater, dem damaligen Romberger Hof)!
Dort hat er einfach seinen Dienst weiter versehen, bis dann 1898 der neogotische funkelnagelneue Spitzturm von St. Lamberti fertiggestellt ist – und Joseph zieht dort wieder ein, in dieselbe Turmstube, in der bis heute getutet wird!
Ich wollte immer gerne wissen, wer Joseph zuhause beim Brauen und Bierausschenken geholfen hat, denn zeitgleich Türmer und Wirt sein geht ja schlecht. Seine Frau oder Familie muss ihn also zuhause unterstützt haben – aber wer war seine Familie? Was war Joseph für ein Mensch? War er gerne Türmer?
An den üblichen einschlägigen Stellen war leider nichts mehr zu erfahren. Aber nun kommt die dramatisch-positive Wendung, wie sie so nur in Münster passieren kann – typisch Münster!
Ich war bei einem Seniorenverein eingeladen zu Kaffee und Kuchen, erzählte gerade so dies und das über meine Recherchen über Türmer-Vorgänger, da meldet sich eine Zuhörerin zu Wort, die mir berichtet, ihr Ur-Großvater sei auch Türmer gewesen, der Vater ihrer Oma also. Und – wie könnte es anders sein – natürlich handelte es sich hierbei um den beschriebenen Joseph Buschkötter!
Diese Oma und Türmerstochter hörte auf den schönen Namen Ernestine, und hier ist ein Foto von ihr als älterer Dame vor ihrem Haus:
Joseph tritt den Turmdienst erst im bereits fortgeschrittenen Alter von 55 an, und übt ihn aus finanzieller Not bis ins hohe Alter von über achtzig Jahren aus. Trotzdem hat er die Turmzeit auch immer sehr gemocht. Die Wirtschaft zuhause wird während seiner Abwesenheit von seiner zweiten Frau gestemmt.
Da die Gastwirtschaft sich in Bahnhofsbaustellennähe befindet, sind die Stammgäste tatsächlich Bahnarbeiter, die sich nach ihrer Schicht noch zum Feierabendbier einfinden. Die zweite Frau des Inhabers Joseph Buschkötter ist jeden Abend von ihrem langen, arbeitsreichen Tag mit der Versorgung von 9 Kindern völlig übermüdet und schläft nicht selten hinter der Theke mit über den Kopf geworfener Schürze ein. Zur Sperrstunde wacht sie dann auf und bekommt nicht immer korrekt die Zeche, die die Herren Stammgäste versoffen haben, weil sie es schlicht im Schlaf verpasst hat. Das schmälert die Not und Sorgen wahrlich nicht…
Zur finanziellen Notlage der Familie Buschkötter kam es offenbar auch, weil zu den vier Kindern aus erster Ehe noch mal unerwartete fünf weitere kamen – und das, obwohl Joseph auf den Pfarrer und Heiratsvermittler gehört und eine etwas ältere Frau erwählt hatte… Vielleicht ist ein Pfarrer in diesem Fall kein guter Ratgeber 😉
Für Joseph war es dann also eine glückliche Fügung, dass er auch während des Neubaus des St. Lambertikirchturms weiter von der Stadt bezahlt wurde. Am 14. März 1899 wurde sein Wiedereinzug in die Turmstube mit den Stadtoberen und dem Kirchenvorstand gefeiert. Die Geschichten um den Abbruch und Neubau des Turmes von St. Lamberti könnt ihr z.B. bei Henning Stoffers Bildergeschichte nachlesen:
Eine weitere sehr interessante Episode ereignete sich während Josephs Türmerzeit:
Dort, wo heute noch die Pflastersteine an die 10 kleinen Häuser erinnern, die dicht aneinandergedrängt hier standen, ist der Drubbel (= niederdeutsch für eine Ansammlung, Anhäufung). Dat Drübbelken, wie der Volksmund liebevoll spöttelnd sagte, war immer brandgefährdet, und in der Heiligen Nacht im Jahre 1905, der 82jährige (!) Joseph hatte gerade zur Mitternacht getutet, da greift er noch einmal sein Horn und bläst nun das Alarmsignal – weil er Feuerschein und Rauch direkt vor der Kirche bemerkt. Das Signal ist nun richtig laut, damit alle Anwohner sich in Sicherheit begeben können und die Löschmaßnahmen zügig beginnen.
Zu diesem Zeitpunkt sind es noch vor Allem die nächsten Anwohner, die zum Löschen verpflichtet sind und entsprechendes Werkzeug bereitstehen haben, die Freiwillige Feuerwehr besitzt bereits Spritzen und rückt mit zwei Kompanien an. Wenig später trifft die erst in diesem Jahr frisch gegründete Berufsfeuerwehr in ihrem modernen Automobil ein. Die Laterne hat Joseph Buschkötter wie angeordnet in die Richtung der Gefahr hinausgehängt. Mit den modernen Straßenhydranten wird genug Wasser für eine zügige Löschaktion geliefert.
Es ist das Haus am Drubbel Nr. 13, in dem der Obst- und Gemüsehändler Lobenstein mit seiner zehnköpfigen Familie wohnt, wo das Feuer in der Weihnachtsnacht 1905 ausbricht…
Dieses Mal sollte der Drubbel noch gerettet werden… aber da es hier wie gesagt ständig brannte, war es bei den zuständigen Stellen der Stadt schnell beschlossene Sache, den Häuserblock aus 10 dichtgedrängten Gebäuden zwischen 1906 und 1907 ganz abzubrechen – aus Sicherheitsgründen, und weil er dem Verkehr der wachsenden Stadt im Wege stand.
Traditionalisten der damaligen Zeit mögen den Abbruch bedauert haben, schließlich schloss der Drubbel den Knotenpunkt Roggenmarkt/Prinzipalmarkt harmonisch ab.
Und in der selben Zeit, in der der Drubbel verschwindet, verschwindet auch Türmer Joseph – er stirbt mit 84 Jahren.
Archäologische Grabungen am Drubbel fanden im Jahre 2002 statt (da wäre ich gerne dabei gewesen!):
Münster-Fact: Sein Ur-Ur-Enkel ist heute bei der Einsatzleitung der Berufsfeuerwehr der Stadt Münster.
Ich habe ihn manchmal am Apparat, wenn ich mich abends ordnungsgemäß und traditionell telefonisch zum Dienst anmelde.
Schön erzählt. Vielen Dank für diese Geschichte.
Sehr interessant! Würde gerne mehr vom Drubbel erfahren. Eine eigene, faszinierende Welt.
Kennst Du schon die digitale Rekonstruktion des Drubbels im Stadtmuseum? Und die Veröffentlichungen rund um die Grabungen finde ich auch sehr faszinierend. Auch die Münzpräge hat sich offenbar dort befunden… Schade, dass die Häuserchenansammlung nicht mehr steht, wäre sicher ein klasse Anblick von St. Lamberti aus. Turmgrüße!